Hördiktat: Bachchoral (Hörstrategien und Übungen für das Staatsexamen)

Hörstrategien

Wenn wir vor der Aufgabe stehen, einen Bachchoral zu notieren, der uns vorgespielt wird, können wir sehr unterschiedlich vorgehen. Es empfiehlt sich allerdings immer, ganz bewusst geeignete Hörstrategien zu verfolgen.

  • Während des Hörens schreiben oder nur zuhören?

Beides ist denkbar und hat jeweils Vor- und Nachteile. Eine Empfehlung: Beim Üben, also noch fern der Prüfungssituation, trainieren wir unser Gedächtnis besonders effizient, wenn wir nicht während des Hörens schon mitschreiben, sondern versuchen, das Gehörte erst danach aus dem Kopf aufs Papier zu bringen. Dazu muss man sich zwingen, schließlich ist da der Wunsch, dass bald möglichst viel auf dem Papier steht. Aber die Trainingsmethode "Stift weg beim Hören" hilft. Nicht nur das Gedächtnis profitiert davon, auch das Hören von Zusammenhängen wird begünstigt. Ein Nachteil allerdings, der in Prüfungssituationen zum Risiko gerät, liegt auf der Hand: Oft kann man zwar beim Hören alles gut verfolgen, in dem Moment aber, wo man schreiben will, ist der Gedächtnisinhalt wie fortgeblasen. Es empfiehlt sich deshalb ganz bewusst auf zwei Arten zu üben: Einerseits, indem man den Stift beim Hören zur Seite legt. Andererseits durch bewusstes Mitschreiben (bei dem man nicht vergisst, trotzdem weiterhin zuzuhören.)

  • Tonhöhen oder Rhythmus zuerst?

Grundsätzlich stehen uns bei Diktaten in der Gehörbildung zwei Möglichkeiten des Skizzierens offen: Notenhälse ohne Köpfe oder Notenköpfe ohne Hälse. Ersteres bietet sich an, wenn der Rhythmus einfacher zu durchschauen ist als der Tonhöhenverlauf. Zweiteres bietet sich im umgekehrten Fall an, bei rhythmisch komplizierter Musik. Da der Rhythmus in Bachs Chorälen meist das geringste Problem darstellt, ist es oft sehr hilfreich, Stimmen, deren Tonhöhenverlauf man nicht sofort durchschaut, zu skizzieren, und zwar, indem man zunächst nur Notenhälse und grobes Auf und Ab notiert (s. u. Videolink.)

  • Einzelstimmen hören oder Akkorde hören?

Oft scheint es, dass unser Ohr vorzugsweise Linien hört. Zur Wahrnehmung von Akkorden müssen sich viele erst bewusst aufraffen. (Vielleicht ist die Spekulation erlaubt, dass dies mit der Entwicklung der europäischen Musik korreliert: die Mehrstimmigkeit kommt in der Musikgeschichte später!) Wo es mir möglich ist, werde ich demnach versuchen, meiner Präferenz zu folgen und Linien zu hören. Allerdings dürfte es in vierstimmiger Musik schwierig werden, alle Stimmen gleichzeitig zu verfolgen. Ab einem gewissen Grad an Komplexität ist dies sogar ein Ding der Unmöglichkeit. Deshalb besteht eine kluge Strategie darin, Stimmverläufe zunächst dort bewusst wahrzunehmen, wo Stimmen hervortreten, z. B. bei Achtelbewegungen, etwa bei Durchgängen im Alt oder Tenor. An diesen Stellen setzt man an, und skizziert nach und nach den Choral, gewissermaßen als Lückentext.
Dort aber, wo sich wenig bewegt, wird das vertikale Hören notwendig, das Hören von Klängen, Akkorden, Harmonien, Stufen etc. Spätesten dort. Denn im Grunde genommen ist es wahrscheinlich Typfrage, ob ich nicht vielleicht sogar von vornherein Klänge wahrnehme und erst in zweiter Linie Stimmverläufe höre. In jedem Falle, auch ganz unabhängig von gewünschtem Prüfungserfolg, ist es sehr wichtig, sich auch auf den harmonischen Aspekt von Musik bewusst einzulassen, und diese Wahrnehmungshaltung dadurch zu trainieren, dass man sie des öfteren einnimmt und sich nicht der eigenen Hörtypologie restlos ausliefert. Und die Fragen nach Stimmverläufen, die zunächst offen blieben, klären sich sehr oft auf vertikalem Weg. So füllt sich der Lückentext immer mehr. ('Der Tenor muss fis haben, da ich D-Dur höre, und der Alt zweifellos a hat.' o.ä.)

  • Welche Rolle spielt dabei das Absolute Gehör?

Wer in der Lage ist, Tonhöhen absolut wahrzunehmen, also unabhängig vom linearen oder harmonischen Kontext, sollte dies unbedingt tun. Aber auch für diejenigen, die sich selbst nicht als "Absoluthörer" oder "Absoluthörerin" bezeichnen würde, lohnt es sich, die absolute Hörperspektive einzunehmen. Dieser Rat wird des öfteren zunächst mit Verwunderung aufgenommen, kann aber sehr hilfreich sein, vor allem, wo es nach dem Ausschlussprinzip geht: 'Ich komme zwar in G-Dur raus, aber das ist nie und nimmer G-Dur, G-Dur klingt anders. Vermutlich habe ich mich irgendwo vertan.' Die Wahrnehmung absoluter Tonhöhen ist im geschilderten Fall zwar nicht präzise genug, um jede Tonhöhe mit größter Verlässlichkeit zu identifizieren, wohl aber um auszuschließen, dass es sich um eine bestimmte, ursprünglich für möglich gehaltene Tonhöhe handelt. (In der Tat kommt es zu Schilderungen dieses Phänomens oft im Zusammenhang mit Kadenzschlüssen an den Choralzeilenenden.)

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