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In dieser abstrakten Form dürfte es schwer sein, diese Intervallfolge in komponierter Musik zu finden. Doch die 5-6- und die 6-5-Seitenbewegungen als Modell können zur Erklärung mediantischer Kleinterzbeziehungen in tonaler Musik herangezogen werden. Damit solche Modelle sinnvoll eingesetzt werden können, ist es wichtig, die Harmonik bzw. Fundamentschritte (Verbindung der Akkordgrundtöne) der zu betrachten, die sich durch diese Intervallfolge ergeben kann. Veranschaulichen wir uns das anhand der 5-6-Abwärtsbewegung:
Die Folge F-Dur → C-Dur (5-6-Bewegung) ist ein Quartfall (oder Quintstieg). Die Folge e-Moll → h-vermindert ebenfalls, nur dass in dieser Verbindung andere Akkorde erklingen (Moll und vermindert) usw. Wir können daher sagen:
- Akkordverbindungen, die sich durch einen Quartfall beschreiben lassen oder Sequenzen, in denen ein Quartfall (oder Quintstieg) sekundweise abwärts sequenziert wird, lassen sich über eine kontrapunktische 5-6-Seitenbewegung verstehen.
Betrachten wir in dem Beispiel oben noch die Akkordverbindungen, die durch die Intervallfolge 6-5 entstehen. Das wären C-Dur → e-Moll, h-vermindert → d-Moll usw., also eine Kleinterz aufwärts, die stufenweise abwärts sequenziert wird. Wir können wieder verallgemeinern:
- Akkordverbindungen, die sich durch einen Terzstieg beschreiben lassen oder Sequenzen, in denen ein Terzstieg sekundweise abwärts sequenziert wird, lassen sich über eine kontrapunktische 6-5-Seitenbewegung verstehen.
Die Chromatisierung des Modells verändert dabei die Fundamentschritte nicht substantiell, lediglich die Akkordfarben und die Intervallgröße der Fundamentschritte werden durch die Chromatik verfärbt bzw. verändert.
Prüfen wir diese Möglichkeiten anhand einer recht bekannten Komposition, der Sonate in C-Dur Op. 53 (Waldstein-Sonate) von Ludwig v. Beethoven. Das folgende Notenbeispiel zeigt das Hauptthema des Kopfsatzes:

Ludwig v. Beethoven. Sonate für Klavier Nr. 21 in C-Dur Op. 53, Klavier: Wilhelm Backhaus, Erstveröffentlichung: 1960, gemeinfrei
Die Harmonik des Themas ist deswegen interessant, weil im 5. Takt ein B-Dur erklingt, das sich mit dem Tonmaterial der Tonart C-Dur nicht erklären lässt. Betrachten wir die Harmonik des Abschnitts zunächst ohne die kleineren Zwischenakkorde, führt das zu folgendem Ergebnis:
Takt | Harmonie | Fundamentschritt zum Folgeakkord ↓ |
---|---|---|
1–2 | C-Dur | Quartfall |
3–4 | G-Dur | Terzstieg |
5–6 | B-Dur | Quartfall |
7 | F-Dur | – |
8 | f-Moll | Sekundanstieg |
9–11 | G-Dur (7) | – |
12 | c-Moll | – |
13 | G-Dur | (Quintfall → C-Dur) |
Beginn Überleitung in C-Dur |
Die Fundamentschritte Quartfall, Terzstieg, Quartfall zum Beginn des Beispiels geben darüber Auskunft, dass sich die Akkordfolge durch eine chromatisierte 5-6-Seitenbewegung verstehen lässt. Die Harmonik C-Dur → G-Dur → B-Dur → F-Dur lässt sich durch die oben rechts gezeigte Chromatisierung des Modells herleiten:
Zur Ergänzung: das Kadenz-Modell
Die beiden Sextintervalle zeigen an, dass ab hier ein anderes Modell zur Erklärung benötigt wird. Sekundanstieg und Quintfall verweisen dabei auf eine IV-V-I-Kadenz bzw. auf die Grundfunktionen Subdominante → Dominante → (Tonika). Die ›doppelte‹ Kadenz (cadenza doppia) bietet für alle Harmonien, die ab Takt 8 erklingen, eine Erklärung:
Verbindung: der chromatische Lamentobass
Dass die Subdominante f in dem Kadenzmodell als Sextakkord und nicht als grundstelliger Akkord erklingt, lässt sich über ein weiteres Modell erklären: den chromatischen Lamentobass oder passus duriusculus. In den Takten 1–9 ist die folgende Bassstimme zu sehen:
Abweichungen vom Modell und Bedeutung
Doch welche Aussagen lassen sich jetzt aufgrund dieser satztechnischen Analyse treffen? Ein Feiern der Analyseperspektive könnte dazu führen, dass man glaubt, die Kompositionsweise Beethovens durchschaut zu haben und dieser Anfang normal sei, weil er sich über Analysemodelle recht gut beschreiben lässt. Das allerdings wäre ein sehr naives Analyseverständnis und würde alle Vorurteile gegenüber der Musiktheorie bestätigen.
Dem ästhetischen Gegenstand näher kommt man, wenn man auf das schaut, was die Modelle nicht erklären konnten. Die folgenden Aspekte können mithilfe der kontrapunktischen Modelle nicht beschrieben werden:
- die tiefe Klanglage der Akkorde
- die pulsierende Rhythmik
- der Klanglagenwechsel hoch/tief z.B. im 3./4. und 7./8. Takt
- die motivische Ausarbeitung als Satz (4 + 4 + 9)
- die Spannungskurve, die sich durch die Dynamik ergibt
Die individuelle Bedeutung des Anfangs ergibt sich also nicht dadurch, dass man ihn auf das Skelett der 5-6-Seitenbewegung reduzieren kann. Das kontrapunktische 5-6-Modell erklärt bestenfalls die Stimmigkeit der Harmonik und warum das aus funktionaler Sicht fragwürdige B-Dur so gut klingt. Erst wenn man die ganze Erscheinung in den Blick nimmt, wird die Einzigartigkeit dieses Beginns offenbar. Oder kennst du einen anderen Sonatensatzanfang, der so ähnlich klingt?