Olivier Messiaens Liederzyklus Poèmes pour Mi – zwei Analysen

Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Selbstlern-Analysekurses von Prof. Irmgard Brockmann an der Hochschule für Musik in Mainz entstanden und widmet sich zwei Liedern des jungen Komponisten Olivier Messiaen aus seinem Zyklus Poèmes pour Mi. Detailliertere Materialien mit Analyseaufgaben und Lösungen finden Sie auf den OER-Seiten der HfM Mainz:

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Inhalt

Olivier Messiaen 1937
Quelle: Wikimedia

Einleitung

Olivier Messiaen (1908-1992) zählt als Komponist und Lehrer zu den Schlüsselfiguren der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, sein Einfluss auf die nachfolgende Komponistengeneration war weitreichend. Die Beschäftigung mit seinem Œuvre erscheint für das Verständnis der kompositionsgeschichtlichen Entwicklungen der europäischen Musik nach der Zweiten Wiener Schule daher wesentlich.

Anliegen der folgenden Analysen ist es, das kompositorische Handwerk und musikalische Denken des jungen Messiaen zu erforschen. Dazu wurden zwei Lieder des damals 28jährigen Komponisten aus seinem 1936 entstandenen Zyklus Poèmes pour Mi in der Fassung für Sopran und Klavier (1) ausgewählt. Das Werk ist Messiaens erster Frau, der Geigerin und Komponistin Claire Delbos (1906-1959), gewidmet, deren Kosename „Mi“ war und mit der der Komponist zum damaligen Zeitpunkt seit vier Jahren verheiratet war. Den neun Liedern des Zyklus liegen eigene Gedichte Messiaens zugrunde, die seine religiöse Haltung zum Thema Liebe und Ehe in poetische Worte fassen. (2)

Wesentliche Merkmale von Messiaens Kompositionsstil waren bereits damals der melodische und harmonische Gebrauch seiner „Modi mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit“ sowie die Hinwendung zu einer „freimetrischen Musik“. (3) Der Komponist hatte sich dazu erstmals schriftlich im Vorwort seines ein Jahr zuvor entstandenen Orgelwerks La Nativité du Seigneur (1935) geäußert, das im Folgenden auszugsweise wiedergegeben werden soll. Weitere für Messiaens musikalisches Schaffen relevante Aspekte wie seine synästhetische Veranlagung, der Gesang der Vögel und sein katholischer Glaube werden anhand anderer Quellentexte kurz vorgestellt.

Anmerkungen

(1) 1937 veröffentlichte Messiaen auch eine Fassung für Sopran und Orchester.
(2) Die Texte der beiden ausgesuchten Lieder sind zwei der leichter zu verstehenden. In einigen der anderen – literarisch dem Surrealismus verpflichteten – Gedichte spiegelt sich der Konflikt des lyrischen Ichs zwischen seiner Liebe zu Gott und der ehelichen Liebe wider und führt zu teils drastischen Metaphern, besonders im 4. Lied „Épouvante“ („Schrecken“), in dem z.B. von „blutigen Fetzen“ und „dreieckig Erbrochenem“ die Rede ist.
(3) Die Bezeichnungen „Modi mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit“ und „freimetrische Musik“ stammen aus Messiaens eigenem Vokabular, z.B. in seiner theoretischen Abhandlung Technique De Mon Langage Musical (1944). In der deutschen Neuausgabe von 2004 finden sie sich u.a. in Kapitel XVI S. 85 ff. bzw. in Kapitel II S. 7. Siehe: Messiaen, Olivier, Technik meiner musikalischen Sprache, Leduc, Paris 2004.

I. Theoretische Grundlagen - Zur Kompositionstechnik in Olivier Messiaens Frühwerk

I. 1. Modi

Über seine Modi schreibt Messiaen 1935 (1):

„Die begrenzt transponierbaren Modi basieren auf unserem chromatischen System von 12 Tönen; sie werden aus mehreren symmetrischen Tongruppen gebildet, deren jeweils letzte Note stets mit der ersten der folgenden Gruppe identisch ist. Nach einer bestimmten Anzahl von chromatischen Transpositionen (je nach Modus) sind sie nicht weiter transponierbar, da etwa die 4. Transposition genau dieselben Töne wie die 1., die 5. genau dieselben Töne wie die 2. ergibt etc. Es existieren drei solche Modi, darüberhinaus einige vom vierten Typus (2), die jedoch weniger interessant sind, da sie zu oft, nämlich sechsmal transponiert werden können. Alle Modi sind sowohl harmonisch wie melodisch verwendbar.

Der 1. Modus gliedert sich in 6 Gruppen zu je 2 Tönen und ist zweimal transponierbar. Es handelt sich um die Ganztonleiter, die bei Debussy häufig vorkommt […].

Der 2. Modus gliedert sich in 4 Gruppen zu je 3 Tönen und ist dreimal transponierbar, wie der verminderte Septakkord. Hier seine melodische Gestalt:

aus: Olivier Messiaen: Vorwort zu La Nativité du Seigneur: neuf méditations pour orgue, Leduc, Paris 1936.

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Der 3. Modus gliedert sich in 3 Gruppen zu 4 Tönen und ist viermal transponierbar, wie der übermäßige Dreiklang. Hier seine melodische Gestalt:

aus: Olivier Messiaen: Vorwort zu La Nativité du Seigneur: neuf méditations pour orgue, Leduc, Paris 1936.

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Nun zu zwei Typen des 4. Modus, die sich jeweils in 2 Gruppen zu je 5 Tönen gliedern und sechsmal transponierbar sind, wie die übermäßige Quart:

aus: Olivier Messiaen: Vorwort zu La Nativité du Seigneur: neuf méditations pour orgue, Leduc, Paris 1936.

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Zu Messiaens eigenem Kommentar aus dem Vorwort zu La Nativité du Seigneur ist zu ergänzen, dass er zum damaligen Zeitpunkt noch von vier Modi ausging und unter Modus 4 verschiedene Skalen, deren Intervallstruktur sich nach dem Tritonus wiederholt, zusammenfasst – siehe oben im Notenbeispiel (3). In seinem 1944 veröffentlichten theoretischen Traktat Technique de mon langage musical unterscheidet er bereits sieben Modi und fügt für jeden Modus – außer dem fünften – auch Beispiele „paralleler Akkordfolgen“ hinzu. (4)

Anmerkungen

(1) Zitiert aus dem deutschen Vorwort zu La Nativité du Seigneur, Leduc, Paris.
(2) Zu diesem Zeitpunkt systematisiert Messiaen nur vier Modi, wobei einige der späteren Skalen hier bereits unter dem vierten Typus subsummiert sind.
(3) Bei den abgebildeten Skalen handelt es sich um den späteren 6. und 4. Modus.
(4) Siehe Messiaen, Olivier, Technik meiner musikalischen Sprache, Leduc, Paris 2004, S.90 f. Posthum erscheint außerdem in den Jahren 1994-2002 Messiaens umfassendes theoretisches Werk Traité de rythme, de couleur, et d'ornithologie (1949 – 1992).

I. 2. Rhythmus

Zu seinen rhythmischen Verfahren gibt Messiaen 1935 folgende Auskünfte (1):

„Der hinzugefügte halbe Grundwert. Hier handelt es sich um die Hälfte der kleinsten Dauer eines gegebenen Rhythmus, die diesem hinzugefügt wird – in Form einer Note oder eines Punktes. Gehen wir von den Rhythmen

aus: Olivier Messiaen: Vorwort zu La Nativité du Seigneur: neuf méditations pour orgue, Leduc, Paris 1936.

aus, die auf dem Prinzip der Verkleinerung und Vergrößerung beruhen. Fügen wir nun den halben Grundwert hinzu:

aus: Olivier Messiaen: Vorwort zu La Nativité du Seigneur: neuf méditations pour orgue, Leduc, Paris 1936.

Diese Äußerungen des jungen Messiaen bezeugen bereits die Entstehung eines rhythmischen Instrumentariums für die ihm vorschwebende Idee einer freien Rhythmik jenseits der herkömmlichen Taktmetrik: Einer Rhythmik, die der Natur entspricht – „zum Beispiel der Wellenbewegung des Meeres, dem Wind, den Bewegungen der Wolken etc.“ (2) Messiaen knüpft hier direkt an das Erbe des französischen Impressionismus an, entwickelt jedoch – u.a. durch das Studium griechischer Metrik und indischer Rhythmen – ein gänzlich neues rhythmisches Vokabular, das er bereits 1941 in systematisierter und ausdifferenzierter Form im Vorwort seines Quatuor pour la fin du temps unter der Überschrift „Petit théorie de mon langage rythmique“ erneut präsentiert. (3)

Anmerkungen

(1) Zitiert aus dem deutschen Vorwort zu La Nativité du Seigneur, Leduc, Paris.
(2) Rößler, Almut, Beiträge zur geistigen Welt Olivier Messiaens, Gilles & Francke, Duisburg 1984, S. 132.
(3) Messiaen unterscheidet dort z.B. für den „hinzugefügten Wert“ („valeur ajoutée“) die Verlängerung durch eine Note, eine Pause oder einen Punkt und differenziert zwischen verschiedenen rhythmischen Augmentationen und Diminutionen (um ein Drittel, Viertel, das Doppelte, die Hälfte etc.). Neu hinzu kommen außerdem die „rythmes non rétrogrables“. (Hierzu ist anzumerken, dass Messiaen einige der dort beschriebenen kompositionstechnischen Neuerungen auch in früher komponierten Werken bereits anwendet.)

I. 3. Akkord auf der Dominante

Das Vorwort zu La Nativité du Seigneur enthält auch ein Notenbeispiel mit einem kurzen Kommentar zum „Akkord auf der Dominante“:

„Der Akkord auf der Dominante enthält alle Töne der Durskala. Das folgende Beispiel zeigt ihn mit seinen Umkehrungen auf demselben Baßton" (1):

aus: Olivier Messiaen: Vorwort zu La Nativité du Seigneur: neuf méditations pour orgue, Leduc, Paris 1936.

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Diese eher nüchterne Darstellung einer Folge von Dominanttredezim-Akkordumkehrungen über einem Orgelpunkt wird später von Messiaen mit einer Beschreibung ihrer Wirkung ergänzt: er nennt sie „Kirchenfensterwirkung“ („effet de vitrail“) (2) und drückt damit die in seiner Vorstellung mit ihr verbundene Farbwirkung aus. Im Laufe der nächsten Jahre verfeinerte er den „Akkord auf der Dominante“ auch mit Vorhaltsbildungen und bereicherte sein harmonisches Repertoire um weitere „accords spéciaux“ wie z.B. den „Akkord der Resonanz“ und den „Quartenakkord“. (3)

Anmerkungen

(1) Zitiert aus dem deutschen Vorwort zu La Nativité du Seigneur, Leduc, Paris.
(2) Siehe Messiaen, Olivier, Technik meiner musikalischen Sprache, Leduc, Paris 2004, S. 67.
(3) Ebenda, S. 67ff.

I. 4. Farben und Synästhesie

Messiaen war synästhetisch veranlagt, das heißt, dass er Musik immer in Kombination mit Farben wahrnahm:

„ […] für mich verbindet sich Musik automatisch mit der Vorstellung von Farben. Wenn ich Musik höre – und das war schon so, als ich noch ein Kind war –, sehe ich Farben. Akkorde werden bei mir durch Farben ausgedrückt, z.B. ein Gelb-Orange mit einem Rotstich.“ (1)

„Es handelt sich um ein inneres Sehen, um ein Auge des Geistes. Es sind wunderbare, unaussprechliche, außerordentlich verschiedene Farben. Wie die Töne sich regen, verändern, sich bewegen, so bewegen sich diese Farben mit ihnen in fortwährenden Verwandlungen. Zweifellos gibt es Gleichbleibendes in dieser Beziehung: gewisse Gruppierungen, gewisse Akkorde, gewisse Tonkomplexe, in derselben Stellung, demselben Zusammenhang wiedergehört, werden immer dieselben Farb-Kombinationen ergeben. Zum Beispiel hat mein »zweiter Modus mit begrenzter Transponierbarkeit« in seiner 1. Transposition als beherrschende Farbe ein violettes Blau. Mein dritter Modus hat in seiner 1. Transposition als vorherrschende Farben Orange, Gold und ein milchiges Weiß. Derselbe Modus ist grau und malvenfarben in seiner 2., blau und grün in seiner 3. Transposition. Und mein 4. Modus in seiner 5. Transposition ergibt ein intensives Violett.“ (2)

Messiaens reiche harmonische Sprache muss unbedingt vor diesem Hintergrund gesehen werden, d.h. alle Tonarten, Modus-Transpositionen und Akkordkomplexe hatten für ihn immer gleichzeitig eine Bedeutung als Farbwerte. Mit welcher Leidenschaft ihn die Suche nach immer neuen und farbenprächtigen Harmonien erfüllte, kann folgendes Zitat von 1944 belegen:

„Mein heimliches Verlangen nach feenhafter Pracht in der Harmonie hat mich hingedrängt zu diesen Feuerschwertern, diesen jähen Sternen, diesen blau-orangenen Lavaströmen, diesen Planeten von Türkis, diesen Violettönen [sic!], diesem Granatrot wuchernder Verzweigungen, diesem Wirbel von Farben in einem Wirrwarr von Regenbögen, wovon ich mit Liebe im Vorwort meines Quatuor pour la fin du Temps gesprochen habe. Ein solches Akkordgebrodel muss notwendig gefiltert werden: allein der geheiligte Instinkt für die natürliche und wahre Harmonie kann dies auf sich nehmen.“ (3)

Anmerkungen

(1) Das Zitat stammt aus einem Podiumsgespräch und ist nachzulesen in: Rößler, Almut, Beiträge zur geistigen Welt Olivier Messiaens, Gilles & Francke, Duisburg 1984, S. 56.
(2) Ebenda, S. 44-45.
(3) Messiaen, Olivier, Technik meiner musikalischen Sprache, Leduc, Paris 2004, S. 73. Die französische Ausgabe Technique de mon langage musical erschien bereits 1944 .

I. 5. Vogelgesang

„Vogelgesänge hat Messiaen schon in seiner Jugend notiert, wenn er bei seiner Tante auf dem Lande zur Erholung weilte. Zuerst kannte er die Vögel noch nicht bei ihrem Namen und schrieb ganz einfach ihre Laute auf, die ihn faszinierten. Später ging es ihm darum, die Sänger genau zu identifizieren; er erkannte sie an ihren Rufen, ihrer Gestalt und ihrem Gefieder und studierte ihr Verhalten […]. Er war um Genauigkeit der Notation bemüht, obwohl er oft gezwungen war, die Rufe der Vögel zu verlangsamen und einige Oktaven tiefer zu schreiben, wenn er sie den Erfordernissen eines bestimmten Musikinstrumentes anpassen musste. Vögel singen außerdem nicht unbedingt in unserem gleichschwebenden temperierten System, was weitere Kompromisse erforderte, und die Klangfarben der einstimmigen Tonfolgen entsprechen auch nicht den Klangfarben unserer Instrumente, so daß durch Zusatztöne – in den meisten Fällen durch Dissonanzen – die Vogelmelodien »gefärbt« werden mußten. Messiaen ist aber trotz dieser schwerwiegenden Veränderungen fähig, auch in seiner Musik den Vogel wiederzuerkennen, den er gemeint hat. Er bezeichnet sich deshalb auch als Ornithologen und verkehrte auf gleichem Fuße mit Wissenschaftlern der ganzen Welt, die dasselbe Wissensgebiet beherrschten.“ (1)

Messiaens große Liebe zu den Vögeln führte in den 50er Jahren zur Komposition einiger Werke, die sich ausschließlich dem Vogelgesang widmeten, nämlich Reveil des oiseaux für Klavier und Orchester (1953), Oiseaux exotiques für Klavier und Kammerorchester (1955–1956) und dem fast dreistündigen Werk Catalogue d’oiseaux für Klavier (1956–1958).

Anmerkungen

(1) Hirsbrunner, Theo, Olivier Messiaen. Leben und Werk, Laaber, Regensburg 1988, S. 63-64.

I. 6. Katholischer Glaube

Der christlich-katholische Glaube war sowohl für Messiaens Leben als auch für sein künstlerisches Schaffen von zentraler Bedeutung. Als Organist war er seit 1931 über 60 Jahre in der Kirche Sainte-Trinité in Paris tätig und improvisierte sonntags, wenn er nicht auf Reisen war, im Gottesdienst. Viele seiner Werke tragen religiöse Titel und er hoffte, durch seine Kompositionen theologische Botschaften vermitteln zu können.

In einem Interview mit Almut Rößler spricht er darüber (1):

„A.R. (Almut Rößler): Vor der Uraufführung der Oper habe ich in einer deutschen Zeitung von einem Interview gelesen, das Sie zusammen mit Ozawa gegeben haben. Sie haben dem Sinn nach gesagt, dass es die Tragik Ihres Lebens sei, als gläubiger Komponist für ungläubige Zeitgenossen zu schreiben.

O.M. (Olivier Messiaen): Das ist wahr. Ich habe gesagt, dass das Drama meines Lebens aus vier Dingen besteht. Erstens: ich spreche von Vogelgesängen zu Stadtbewohnern, die noch nie einen Vogel gehört haben. Um Vögel zu hören, muss man auf dem Land leben, gegebenenfalls um 4 Uhr morgens aufstehen und in der Morgen- und Abenddämmerung den Vögeln zuhören, die den Sonnenaufgang begrüßen. Das geht nicht in Paris, London oder Berlin. Das zweite Drama besteht darin, dass ich den Leuten sage, dass ich beim Musikhören Farben sehe, und sie sehen nichts, gar nichts. Das ist schrecklich. Und sie glauben mir nicht einmal. Das dritte Drama ist, dass ich eine Rhythmik ausgearbeitet habe, griechische Metrik und indische Rhythmen etc. erforscht habe, und ich habe dabei eine immer freiere Rhythmik gewonnen, die der Natur immer näher kam, zum Beispiel der Wellenbewegung des Meeres, dem Wind, den Bewegungen der Wolken etc. Wenn ich vom Rhythmus rede, verstehen die meisten Leute nichts […]. – Das vierte Drama, das schlimmste von allen: ich glaube, und ich rede von den Geheimnissen Christi zu Leuten, die nicht glauben, die glauben, dass Christus nicht Gott gewesen ist, und die nichts begreifen, die auch nicht Zeit und Raum begreifen. […] Gott ist unendlich, er existiert nicht im Raum und kennt weder Anfang noch Ende.“

Anmerkungen

(1) Rößler, Almut, Beiträge zur geistigen Welt Olivier Messiaens, Gilles & Francke, Duisburg 1984, S. 131f.

Zitat von Kent Nagano zu den Poèmes pour Mi

Kent Nagano, der eng mit Messiaen zusammengearbeitet hat und 1986 die konzertante deutsche Erstaufführung von Messiaens Oper Saint Francoise d’Assise in Bonn dirigierte äußerte sich in einem Interview anlässlich eines Konzertes mit den Poèmes pour Mi einmal folgendermaßen:

„Wie bei fast allen großen Komponisten – Mozart, Beethoven – ist auch bei Messiaen die Sprache schon relativ früh definiert. Er begreift Rhythmus als etwas Freies, denkt sehr stark ohne Taktstriche. So können seine Worte im Rhythmus organisch und frei sein. Man fühlt das schon in Poèmes pour Mi. Er war sich immer treu. Vielleicht sind später kompliziertere Effekte dazu gekommen, aber sein Stil war immer da. Als er die Poèmes komponierte, war er noch sehr jung, 28 Jahre. Ich finde beeindruckend, dass er sich entschied, das Libretto selbst zu schreiben. Und ja, es ist eine Liebesgeschichte. Aber das Libretto bezieht sich auch auf das Neue Testament. Er hat also Liebe und Spiritualität zusammengebracht.“ (1)

Anmerkungen

(1) Kent Nagano im Interview mit Julia Schölzel vom 14.02.2019 auf BR-Klassik, zuletzt aufgerufen am 11.06.2024: br-Klassik
Anmerkung: Bei dem Zitat handelt es sich um die Transkription eines Interviewausschnittes (Naganos Antwort auf die erste Frage von Julia Schölzel), der laut Auskunft des BR Podcast-Teams für die Textfassung durch die BR-KLASSIK-Online-Redaktion sprachlich leicht angepasst bw. redigiert wurde. (Die Textfassung ist seit Februar 2024 nicht mehr gepostet, das Audio ist jedoch weiterhin verfügbar.)

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Quelle: YouTube

II. Analyse des Liedes Ta voix

II. 1. Text und Übersetzung (1) des Gedichts (von O. Messiaen)

Anmerkungen

(1) Bruhn, Siglind: Olivier Messiaen, Troubadour. Liebesverständnis und musikalische Symbolik in „Poèmes pour Mi“, „Chants de terre et de ciel“, „Trois petites Liturgies de la présence divine“, „Harawi“, „Turangalîla-Sinfonie“ und „Cinq Rechants“. Edition Gorz, Waldkirch 2007, S. 91.

II. 2. Formale Konzeption

Entsprechend der Form des Gedichtes wählt Messiaen folgende formale Konzeption:

II. 3. Inhalt

In seinem Poem Ta voix beschreibt der Dichter Messiaen das Bild eines Frühlingsnachmittages, an dem er aus einem geöffneten Fenster die Stimme seiner geliebten Frau wahrnimmt. Vor seinem geistigen Auge entsteht daraus ein visionäres Idealbild, das er in vielen Konjunktiv-Formulierungen schildert: ,,wenn sich das Fenster zur Ewigkeit hin öffnete“ wäre seine Frau für ihn „noch schöner“; sie würde „die Zahl der körperlosen Engel ergänzen“ und erhöbe „ihre Stimme zum Ruhm der heiligen Dreifaltigkeit“. Für den gläubigen Katholiken Messiaen, dem die Ehe als heiliges Sakrament galt, entsprach diese Vision seiner tiefsten religiösen Überzeugung.

II. 4. Form und Tonart

Sowohl das Gedicht als auch das Lied gestaltet der Komponist als dreiteilige A-B-A‘ - Form mit einer kurzen Coda. Er notiert sechs Kreuze als Vorzeichen, die im Mittelteil (B) aufgelöst werden. Die vielen Fis-Dur-Quartsextakkorde in den beiden A-Teilen bestätigen Fis-Dur hier als tonales Zentrum. (1) Das Lied strahlt in den Eckteilen eine feierliche Ruhe aus und verweist in dieser Eigenschaft auch auf spätere Stücke Messiaens in derselben Tonart wie z.B. den langsamen 6. Satz der Turangalîla-Symphonie, „Jardin du Sommeil d’Amour“ und die Fis-Dur Sätze im Klavierzyklus Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus. (2)

Notenbeispiel: Takt 1-2 aus Ta voix
Messiaen, Olivier, Poèmes pour Mi, 2me Livre, Leduc, Paris 1939, S. 3.

Anmerkungen

(1) Fast jeder Takt der beiden A-Teile beginnt mit einem Fis-Dur-Quartsextakkord; zum Schluss des Liedes erklingt der Akkord sogar mit nachfolgendem Grundton fis im Bass.
(2) Die Tonart Fis-Dur spielt in diesem Zyklus eine wichtige Rolle: Für drei der insgesamt 20 Sätze gelten von Beginn bis Ende jeweils sechs Kreuze als Vorzeichen: Nr. 1 Regard du Père, Nr. 15 Le baiser de l’Enfant-Jésus und Nr. 19 Je dors, mais mon coeur veille. Auch der Schluss des Zyklus im 20. Stück Regard de l’Église d’amour und das Ende des 6. Par Lui tout a été fait sind in Fis-Dur notiert. Zudem erklingt eines der zyklischen Themen, das „Gottesthema“ („Thème de Dieu“) jeweils in Fis-Dur.

II. 5. Farben

Beide A-Teile und die Coda sind im 2. Modus in der ersten Transposition komponiert, für die Messiaen als „vorherrschende Farbe […] violettes Blau“ nennt. (1) Ausgenommen hiervon sind lediglich die beiden sich entsprechenden Takte 7 und 22, in denen vom „erwachenden Frühlingsvogel“ die Rede ist: Hier wechselt Messiaen in die zweite Transposition des 2. Modus, die er mit den Farben „mauve und rosa in der Höhe, goldfarbig und braun in der Tiefe“ assoziiert. (2) Dass der Transpositionswechsel ausgerechnet an diesen Stellen erfolgt, ist sicherlich kein Zufall und könnte ein Hinweis auf die Farben des Vogelgefieders sein. Als weitere Farbe in den A-Teilen spielt die Tonart Fis-Dur eine Rolle, die Messiaen als „ein Funkeln aller Farben“ (3) wahrnahm. Da die Modi „sich in der Atmosphäre mehrerer Tonalitäten zugleich bewegen“ (4), scheinen für Messiaen hier mehrere Farbeindrücke gleichzeitig zu existieren.

Notenbeispiel: Takt 7 aus Ta voix
Messiaen, Olivier, Poèmes pour Mi, 2me Livre, Leduc, Paris 1939, S. 4.

Anmerkungen

(1) Michaely, Aloyse: Die Musik Olivier Messiaens, Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner, Hamburg 1987, S. 363.
(2) Ebenda.
(3) Siehe Rößler, Almut: Beiträge zur geistigen Welt Olivier Messiaens, Gilles & Francke Verlag Duisburg 1984, S. 127.
(4) Messiaen, Olivier: Technik meiner musikalischen Sprache, Verlag Leduc, Paris 2004, S. 94.

II. 6. Vogelgesang

Das Klaviersolo in Takt 23 klingt wie eine frühe Vorausnahme von Messiaens späteren Kompositionen mit Vogelgesang: Rechte und linke Hand tragen unisono in hoher Lage – jetzt wieder in der ersten Transposition des 2. Modus – eine lebhafte Melodie vor (Tempo: „Vif“), die rhythmisch durch viele „valeurs ajoutées“ (hinzugefügte Werte) (1) charakterisiert ist. Sie symbolisiert den Vogelgesang und beschreibt als Metapher gleichzeitig den „überirdischen“ Gesang der Frau.

Anmerkungen

(1) “Valeur ajoutée”: Erklärung s.o. in der Einleitung unter 2. Rhythmus.

II. 7. Rhythmus und Takt

Rhythmisch wird das gesamte Lied von einer fast durchgängigen Sechzehntel-Bewegung im Klavierpart geprägt, die bis zum Schluss nur an einer Stelle, nämlich am Ende des B-Teils in Takt 16 unterbrochen wird. Die gleichförmige Bewegung in langsamem Tempo („Presque lent“) trägt in den A-Teilen zu der dort vorherrschenden ruhigen und feierlichen Grundstimmung bei. Trotz der durchlaufenden Sechzehntel vermeidet Messiaen jedoch ein regelmäßiges Metrum und notiert keine Taktarten. Jeder Takt in den A-Teilen erhält am Ende einen sog. „valeur ajoutée“ (hinzugefügten Wert), in den meisten Takten wird das letzte Achtel punktiert, also um ein Sechzehntel verlängert. In Takt 6 (bzw. 21) wird es auf fünf Sechzehntel ausgedehnt, woraufhin im folgenden Takt 7 (bzw. 22) der Fünferwert vorherrschend, aber wiederum von einem Viererwert unterbrochen wird. Solche und ähnliche rhythmische Verfahren (s. u.) ermöglichen es dem Komponisten, rhythmische Regelmäßigkeiten und metrische Schwerpunktsetzungen zu vermeiden und sich seinem Ideal einer freien, naturhaften Rhythmik zu nähern.

II. 8. Deklamation und Rhythmus

Im B-Teil ändert Messiaen vor allem die Vortragsweise des Soprans: Durch die vielen Tonwiederholungen erhält der syllabisch vertonte Text einen deklamatorischen Gestus, der gut zu der im Text heraufbeschworenen Vision passt. Zugleich gestaltet er den Rhythmus freier als in den A-Teilen: In jedem Takt finden sich unterschiedliche „valeurs ajoutées“ (hinzugefügte Werte), wodurch fast jede rhythmische Gruppe einen anderen Dauernwert erhält. (1)

Zusätzlich zu den „valeurs ajoutées“ arbeitet Messiaen hier auch mit anderen rhythmischen Verfahren: In Takt 10 (bis Takt 11 Mitte) nutzt er die Technik der rhythmischen Augmentation zur Textausdeutung: Der im Gedicht enthaltene Komparativ („plus belle“) erfährt durch das Anwachsen der Gruppen von fünf auf sechs zu sieben Sechzehnteln ein musikalisches Pendant. Eine weitere Steigerung durch rhythmische Verfahren erreicht Messiaen in T. 15 durch polyrhythmische Überlagerung im Klavier: In der rechten Hand erklingen sechs rhythmische Gruppen, von denen jede jeweils fünf Sechzehntel dauert (Ausnahme: Die fünfte Gruppe hat eine Dauer von sechs Sechzehnteln). In der linken Hand wiederholt sich die Spielfigur jedoch bereits nach vier Sechzehnteln, sodass sich eine polyrhythmische Überlagerung von Fünfer- und Vierer-Gruppierungen ergibt. Der so erzeugte und mit einem Crescendo unterstützte Spannungsaufbau führt direkt zum musikalischen Höhepunkt des Liedes in Takt 16.

Anmerkungen

(1) So folgen z.B. in Takt 9 Gruppen von 4, 3, wieder 4 und 5 Sechzehnteln Dauer aufeinander. Sie konstituieren sich sowohl durch harmonische als auch melodische Parameter wie z.B. hier durch die in Kleinterzen gestaffelte harmonische und melodische Sequenz. Der Komponist zeigt die Gruppierungen jeweils durch die Verbalkung der Notenhälse an.

II. 9. Harmonische Sequenzen

Auch in harmonischer Hinsicht ist der B-Teil abwechslungsreich gestaltet. Messiaen verwendet hier vorwiegend Akkorde auf Durbasis (1) – z.B. Dominantseptakkorde (2) und pentatonische Akkorde (3) –, die er in schnellen Wechseln im Kleinterzzirkel oder Ganztonabstand real sequenziert. Dabei hat die Richtung der Sequenzen oft textausdeutende Funktion, z.B. komponiert Messiaen eine steigende Sequenz an der Stelle, an der es im Text um die Öffnung zur Ewigkeit geht (Takt 9), desgleichen wird das „unendliche Licht“ in Takt 14 mit einer steigenden Sequenz vertont. (4) Analog verdeutlicht die abwärts gerichtete Sequenz in den Takten 11,5-12 die untergeordnete Stellung der Magd („Du bist die Magd des Sohnes“).

Anmerkungen

(1) Die Akkordmixturen des 2. Modus, die in den A-Teilen die Harmonik bestimmen, wechseln jeweils Dur- und Molldreiklänge ab, z.B. Takt 1: Fis-Dur – C-Moll (enharmonisch) und A-Dur – Dis-Moll.
(2) Siehe unten, Anmerkung (2) des Abschnitts 10. Komposition in Schichten.
(3) Die zu den Silben Si und el- sowie sur und ter- (von sur (l‘é-)ter-) erklingenden Akkorde resultieren aus vier verschiedenen Dur-Pentatoniken mit den Grundtönen E, G, B und Des; sie bilden eine im Kleinterzzirkel steigende reale Sequenz.
(4) Die lichtvolle Jenseitsvision findet außerdem in der durchwegs hohen Lage des Klavierparts einen entsprechenden Ausdruck. Abgesehen vom letzten Ton des Liedes, dem Kontra-fis im Klavier, ist der ansonsten tiefste Basston lediglich das dis0 in Takt 13.

II. 10. Komposition in Schichten

In den Takten 10-12 schichtet Messiaen im Klavierpart Akkorde, die aus verschiedenen Modi stammen, übereinander: Zunächst erklingen Mixturen aus unterschiedlichen Transpositionen von Modus 3 in der rechten Hand über Akkorden aus Modus 2 (alle drei Transpositionen) in der linken Hand, anschließend Akkordmixturen aus drei akustischen Skalen (1) (rechte Hand), kombiniert mit Dominantseptakkord-Mixturen (2) in der linken Hand. Die polymodale Übereinander-Schichtung von Akkorden aus unterschiedlichen Skalen sowie die schnellen (halbtaktigen) Wechsel der Transpositionen dürften in Messiaens Vorstellung dabei ein ziemlich farbenprächtiges Bild hervorgerufen haben.

Notenbeispiel: Takt 9-12 aus Ta voix
Messiaen, Olivier, Poèmes pour Mi, 2me Livre, Leduc, Paris 1939, S. 4.

Darüber hinaus weist die Technik der Komposition in Schichten schon auf spätere Kompositionen Messiaens hin, in denen er ganze Sätze oder längere Formteile mehrschichtig komponiert. So überlagern sich z.B. im 1. Satz des Quatuor pour la fin du Temps („Liturgie de cristal“) sowohl im Cello- als auch im Klavierpart rhythmische mit melodischen bzw. harmonischen Ostinati und bilden so vier voneinander unabhängige Schichten.

Anmerkungen

(1) Unter der sog. „akustischen Skala“ versteht man die Obertöne 8-14, über c also die Skala c-d-e-fis-g-a-b-c. Vgl. Gárdonyi, Zsolt und Nordhoff, Hubert Harmonik, Möseler Verlag Wolfenbüttel 1990, S. 135 ff. - Die in den Takten 11,5-12 erklingenden Akkordmixturen in der rechten Hand entstammen der as-, ges- und e-akustischen Skala.
(2) Die Dominantseptakkord-Mixturen in der linken Hand liegen über den Orgelpunkten h (Fis7, E7, D7), a (E7, D7, C7) und g (D – hier ohne 7–, C7 und B7).

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Quelle: YouTube

III. Analyse des Liedes Le Collier

III. 1. Text und Übersetzung (1) des Gedichts (von O. Messiaen)

Anmerkungen

(1) Bruhn, Siglind: Olivier Messiaen, Troubadour. Liebesverständnis und musikalische Symbolik in „Poèmes pour Mi“, „Chants de terre et de ciel“, „Trois petites Liturgies de la présence divine“, „Harawi“, „Turangalîla-Sinfonie“ und „Cinq Rechants“. Edition Gorz, Waldkirch 2007, S. 77.

III. 2. Formale Konzeption

Entsprechend der Form des Gedichtes wählt Messiaen folgende formale Konzeption:

III. 3. Inhalt

Im Gedicht „Le collier“ wird die Welt in surrealistischer Manier auf den Kopf gestellt: Der Frühling scheint sich hier nicht in seiner Blütenpracht zu zeigen, sondern ist gefesselt bzw. „angekettet“, auch die frische Morgenluft schmiegt sich nicht an die „gewellte Landschaft“ an, sondern die Landschaft ist – umgekehrt – an die Morgenluft angeschmiegt, und inmitten dieser Landschaftsszene mit einem „leichten Morgen-Regenbogen“ ruft das lyrische Ich mehrmals nach einer mysteriösen Halskette. Der Sinn erschließt sich erst in der letzten Zeile des Gedichts „Tes deux bras autour de mon cou, ce matin“ („Deine beiden Arme um meinen Hals, heute Morgen“): Die Halskette ist offensichtlich als Metapher für die Umarmung der Geliebten zu verstehen, die seine „müden Ohren“ stützt und ihn mit ihrem Lächeln und ihrer Anmut erfrischt („Halskette der Erneuerung, des Lächelns und der Anmut“). Und auch das Anschmiegen der „gewellten Landschaft“ an die frische Morgenluft spielt symbolisch auf die zärtliche Liebkosung der Frau an.

III. 4. Form und Tonart

Sowohl das Gedicht als auch das Lied gestaltet Messiaen als dreiteilige A-B-A - Form mit einer kurzen Coda, auf die im Lied noch ein Klaviernachspiel folgt. Die Partitur ist ohne Vorzeichen notiert, jedoch stellt sich E-Dur aufgrund des häufig wiederholten E-Dur-Quartsextakkordes als tonales Zentrum heraus (1), das durch die Dominantseptakkorde über H in den Takten 11-13 bzw. 38-39 und 42 zusätzlich bestätigt wird. (2) Die Tonart bleibt dennoch in einer Art Schwebezustand, da an keiner Stelle des Liedes der Grundton „e“ im Bass liegt, sondern in weiten Teilen jeweils „h“ als Basston erklingt. (3)

Anmerkungen

(1) Auf ähnliche Weise wurde auch in Ta Voix ein Tonika-Gefühl erzeugt, dort in Fis-Dur.
(2) In den Takten 11-13 bzw. 38-39 handelt es sich um einen Dominantseptakkord mit großer None und Tredezime, in Takt 42 und einen Dominantseptakkord mit kleiner None.
(3) In allen Takten der A-Teile und der Coda erklingt „h“ als Basston, betroffen sind insgesamt 37 von 51 Takten des Liedes.

III. 5. Polymodalität und Farben

Beide A1-Teile und das Klaviernachspiel sind als polymodales harmonisches Ostinato angelegt, in dem Akkordfolgen aus zwei verschiedenen Modi übereinandergeschichtet werden: Während die rechte Hand in den Takten 1-4 (bzw. 27-31) eine Akkordmixtur von drei (1) Akkorden aus dem dritten Modus in seiner ersten Transposition wiederholt, wechseln sich in der linken Hand jeweils zwei Akkorde aus dem zweiten Modus in seiner zweiten Transposition ab. Im Folgenden bleibt dieses Muster erhalten, jedoch tauschen die beiden Hände für die nächsten vier Takten (5-8 bzw. 32-25) die Modi, sodass die rechte Hand jetzt im zweiten Modus (2. Transposition) und die linke im dritten Modus (1. Transposition) spielt, wobei der – in beiden Skalen leitereigen enthaltene – E-Dur-Quartsextakkord als Bindeglied in der linken Hand bestehen bleibt.

Notenbeispiel: Takt 1-10 aus Le collier
Messiaen, Olivier, Poèmes pour Mi, 2me Livre, Leduc, Paris 1939, S. 10.

Der Vokalpart ist im ganzen Lied eng an die Oberstimme des Klaviers gekoppelt und enthält dementsprechend jeweils Töne aus dem der rechten Hand zugeordneten Modus. In den Takten 9-10 (bzw. 36-37) erfolgt der Wechsel zurück zur Ausgangsposition, deren Kombination (3. Modus, 1. Transposition über 2. Modus, 2. Transposition) auch im Nachspiel verwendet wird.
Dass Messiaen genau diese beiden Transpositionen für die Vertonung von Le Collier ausgewählt hat, ist sicher kein Zufall, da sie mit ihren Rot- und Goldtönen gut zu der im Gedicht assoziierten Morgenstimmung (2) passen. Der Komponist äußerte sich dazu wie folgt: „Mein dritter Modus hat in seiner 1. Transposition als vorherrschende Farben Orange, Gold und ein milchiges Weiß.“ (3) Für die zweite Transposition des 2. Modus nannte er die Farben „mauve und rosa in der Höhe, goldfarbig und braun in der Tiefe“. (4)

Anmerkungen

(1) In den längeren Takten 4 bzw. 31 besteht die Mixtur jeweils aus fünf Akkorden.
(2) Der Morgen wird dreimal im Gedicht genannt: „arc-en-ciel léger du matin“, „l’air frais du matin“ und „ce matin“.
(3) Rößler, Almut: Beiträge zur geistigen Welt Olivier Messiaens, Gilles & Francke Verlag Duisburg, 1984, S. 44-45.
(4) Michaely, Aloyse: Die Musik Olivier Messiaens, Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner, Hamburg 1987, S. 363.

III. 6. Rhythmus und Takt

Das Lied beginnt mit regelmäßig gespielten Klavierakkorden in gemäßigtem Tempo („Modéré, un peu vif“), die einen – allerdings nicht explizit notierten (1) – 3/8 Takt formieren. In den zehn Takten des Formteils A1 weicht Messiaen nur zweimal (in Takt 4 und 8 bzw. 31 und 35) von dieser Regelmäßigkeit ab, indem er diese Takte auf eine Dauer von vier Achteln plus einer Sechzehntel als „valeur ajoutée“ ausdehnt. Rhythmisch sehr frei wirkt der unvermittelt folgende forte-Ausruf „Ah! mon collier!“ in Takt 11 (Formteil A2). Ihm liegt der indische Rhythmus „râgavardhana“ (2) zugrunde, der sich aus 2+3+2+12 Sechzehnteln zusammensetzt. Den langen letzten Wert teilt Messiaen in Le Collier (wie auch in späteren Stücken) in drei Viertel auf, sodass sich ein Rhythmus, bestehend aus 2+3+2+4+4+4 Sechzehnteln ergibt:

Notenbeispiel: Takt 11 (Sopran) aus Le collier
Messiaen, Olivier, Poèmes pour Mi, 2me Livre, Leduc, Paris 1939, S. 10.

Im nächsten Takt (Takt 12) verändert Messiaen diesen Rhythmus nochmals und gruppiert ihn nun zu 2+3+4+4+6(=4+2) Sechzehnteln. (3)

Noch flexibler erscheint die Rhythmik in der zweiten Strophe (Formteil B): Insbesondere die beiden längeren Melismen in den Takten 18 und 24-27 klingen rhythmisch sehr spontan und tragen improvisatorische Züge. Rhythmische Regelmäßigkeit entsteht in dieser Strophe nur durch die viermalige Wiederholung des Taktes 19, der an dieser Stelle eine textausdeutende Funktion zukommt und als Hinweis auf die Gleichförmigkeit der gereihten Perlen interpretiert werden kann.

Notenbeispiel: Takt 14-26 aus Le collier
Messiaen, Olivier, Poèmes pour Mi, 2me Livre, Leduc, Paris 1939, S. 11.

Anmerkungen

(1) Die Weiterentwicklung seiner rhythmischen Sprache (u.a. durch die Einbeziehung indischer Rhythmen und der „valeurs ajoutées“) führte ab einem bestimmten Zeitpunkt dazu, dass Messiaen – wie auch in den Poèmes pour Mi – keine Taktarten mehr notierte. Auch im 1935 entstandenen Orgelzyklus Nativité du Seigneur schrieb der Komponist bereits keine Taktarten mehr vor, griff jedoch später manchmal darauf zurück wie z.B. in einigen Sätzen des 1941 komponierten Quatuor pour la fin du temps.
(2) Der Rhythmus „râgavardhana“ ist im Übrigen der Einzige der 120 Decîtalas, auf den Messiaen in Technique de mon langage musical näher eingeht, s. Messiaen, Olivier: Technik meiner musikalischen Sprache, Verlag Leduc, Paris 2004, S. 7f. Messiaen demonstriert dort am Beispiel des „râgavardhana“ grundlegende Prinzipien seines rhythmischen Denkens: Die Vergrößerung bzw. Verkleinerung (3 Achtel – 3 Viertel), den hinzugefügten Wert (das mittlere Achtel ist punktiert) und die Spiegelbildlichkeit des „nicht umkehrbaren Rhythmus“ (Achtel – punktiertes Achtel – Achtel).
(3) Messiaen demonstriert damit auch seinen freien Umgang mit indischer Rhythmik, die ihm in erster Linie als Inspirationsquelle für die ihm vorschwebende „freimetrische Musik“ und die Entwicklung seiner eigenen rhythmischen Kompositionstechniken diente. (Zur „freimetrischen Musik“ vgl. Messiaen, Olivier: Technik meiner musikalischen Sprache, Verlag Leduc, Paris 2004, S. 7.)

III. 7. Melodik

Der melodische Gestus wechselt im Verlauf des Liedes mehrfach: Bereits innerhalb der syllabisch vertonten ersten Strophe (Formteil A) entsteht ein großer melodischer Kontrast zwischen der anfangs leisen und sehr schlichten Melodie, die mit ihrer Kleinterzintervallik an Kinderlieder erinnert, und dem unvermittelt folgenden lauten und in hoher Lage einsetzenden pentatonischen Ausruf „Ah! mon collier!“, bei dem die Melodie weit ausschwingt und ihren Ambitus dabei auf eine Oktave erweitert. (1)

An der zweiten Strophe (Formteil B) fällt zunächst sprachlich die – für Messiaen eher ungewöhnliche – Reimform auf („lasses“, „grâce“, „cocasses“). Messiaen geht darauf auch musikalisch ein, indem er die drei Reime mit Melismen ausschmückt, die er mit jedem Reim verlängert und von vier über zwölf auf zwanzig Töne anwachsen lässt. Der Sopran nimmt in diesem Abschnitt zwei Anläufe zum Höhepunkt des Liedes in Takt 24: Im ersten Anlauf (B1) werden die ersten beiden gereimten Verse als zweigliedrige Sequenz vertont, deren zweite Phrase nach dem Prinzip der Steigerung höher, lauter und – aufgrund des längeren Melismas – länger als die erste gestaltet ist. Die Melodie kreist hier um den verminderten Septakkord e-g-b-cis(-e) und enthält dementsprechend viele kleine Terzen und Tritoni. Im zweiten, wiederum leise beginnenden Anlauf (B2) baut sich durch die viermalige crescendierende Wiederholung des Taktes 19 viel Spannung auf, wozu auch die Melodik beiträgt, die an dieser Stelle durch ihre Dreitonmotivik und Tonrepetition insistierend vorwärtsdrängt. Mit dem Erreichen des Höhepunkts in Takt 24 beginnt sich die Spannung wieder zu lösen: Das längste der drei Melismen (B3) setzt hier mit einem langen Ton in hoher Lage ein und bewegt sich anschließend im diminuendo in einer dreimaligen wellenförmigen Bewegung abwärts. Die Analogie zum melodischen Spannungsverlauf der ersten Strophe ist unverkennbar: Auch dort folgte auf die leise und in kleinem Ambitus beginnende Melodie ein forte-Ausbruch, der im decrescendo abwärts weitergeführt wurde und dabei einen großen Tonraum (2) durchmaß.

Anmerkungen

(1) Die melodische Linie setzt sich in der Oberstimme des Klavierparts fort, die das Phrasenende zweimal in einer rhythmisch freien Version imitiert.
(2) Während der Ambitus im Formteil A2 eine Oktave umfasst, erreicht er hier sogar den einer kleinen None.

III. 8. Harmonik und Sequenzen

Für die musikalische Schilderung der Halskette in Formteil B setzt Messiaen vor allem harmonische Mittel ein: Die ersten beiden Verse (B1), die sich reimen („lasses“ - grâce“) formt er musikalisch zu einer aufsteigenden realen Sequenz im zweiten Modus (2. Transposition): Die Takte 14-15 werden ab Takt 16 im forte um eine kleine Terz nach oben versetzt (und beim Reim verlängert), wodurch auch die inhaltliche Steigerung („Halskette der Erneuerung, des Lächelns und der Anmut“) musikalisch ausgedrückt wird. Den letzten Reim ("-casses" von„cocasses“) (B3) vertont er mit einer dreimalig in Kleinterzen abwärts führenden realen Sequenz, die mit rhythmischen Verkürzungen einhergeht und im diminuendo und rallentando in die Reprise des A-Teils überleitet.

Für die Vertonung des dritten Verses (B2), der inhaltlich das konkrete Schmuckstück beschreibt, nutzt Messiaen ein anderes harmonisches Mittel, nämlich den von ihm später als „Kirchenfensterwirkung“ („effet de vitrail“) (1) beschriebenen Effekt: Über einem Orgelpunkt erklingen nacheinander verschiedene „Akkorde auf der Dominante“ (2); in diesem Fall sind es die Akkorde auf der Dominante von Fis-Dur, E-Dur, Cis-Dur und Gis-Dur über dem Orgelpunkt cis. Die Farbigkeit dieser siebenstimmigen Akkordfolge, die sich auch nicht-synästhetisch veranlagten Hörer:innen unmittelbar mitteilt, korrespondiert hier perfekt mit der Vielfarbigkeit der „orientalischen“ Halskette.

Anmerkungen

(1) Messiaen, Olivier: Technik meiner musikalischen Sprache, Verlag Leduc, Paris 2004, S. 67.
(2)Ebenda.

III. 9. Coda und Nachspiel

Die vierte Strophe (Coda) steht als einzelner Vers etwas isoliert. Inhaltlich offenbart sie die überraschende Auflösung des vorher nur metaphorisch Angedeuteten: Die Halskette hat symbolische Bedeutung und soll die Arme bzw. die Umarmung seiner Frau versinnbildlichen. Für diese Kernaussage des Gedichts, die sich in ihrer Direktheit stark vom Tonfall der vorhergehenden Strophen abhebt, wählt Messiaen auch musikalisch eine völlig andersartige Textur: Die Stelle, die im pianissimo „zärtlich“ („tendre“) vorgetragen werden soll, beginnt mit dem einstimmigen Gesang, zu dem das Klavier ab dem vierten Ton eine choralartige Begleitung in langen, teils querständig (1) zueinander klingenden Akkorden spielt.

Notenbeispiel: Takt 41-42 aus Le collier
Messiaen, Olivier, Poèmes pour Mi, 2me Livre, Leduc, Paris 1939, S. 12.

Ein neuntaktiges Klaviernachspiel rundet die Form des Liedes ab, indem es das polymodale Ostinato der Anfangstakte wiederaufgreift.

Anmerkungen

(1) Im zweiten Akkord klingen beispielsweise „ais“ und „a“ gleichzeitig, im dritten „e“ und „es“ sowie „b“ und „h“, usw.