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Musik der Renaissance (Lehrmaterialien für eine Unterrichtssequenz)

Inhalt

Grundlage & Lernziele

Wissenschaftliche Ausgangslage

Im Laufe des 16. Jh., in dem das Interesse am Verhältnis zwischen Text und Musik – insbesondere hinsichtlich der syntaktischen Struktur – in den Vordergrund des Interesses rückt und man die Analogie zwischen einem Musikstück und einer Rede hervorhebt, entstehen, vor allem in den italienischen Kadenzlehren, seit Gallus Dressler (1563) aber auch in denen der deutschen Theoretiker, Forderungen, die Kadenz als Gliederungsmittel einzusetzen, um die syntaktische Struktur des Textes nachzuzeichnen. Die Kadenz erscheint geradezu als »Punkt der Komposition«. (Stephano Vanneo 1533: »Est enim cadentia veluti punctum.« Zarlino 1558: »si può chiamare Punto della cantilena.«) Gedanken wie diese werden von Vanneo 1533 formuliert und von Giovanni del Lago (1540) und Zarlino (1558) in abgewandeltem Wortlaut übernommen. Im Zusammenhang mit der stärkeren Reflexion des Verhältnisses von Text und Musik ist auch Zarlinos Interpretation von Tinctoris’ Clausula-Definition zu sehen, in der er den Begriff der perfectio – bei Tinctoris ein Verweis auf die perfekte Schlußkonsonanz – zur »Vollendung des Wortsinns« ergänzt (»la perfettione del parole«).

Elisabeth Schwind, »Klausel und Kadenz«, in: MGG2

Unterrichtsziele

Von der Ausgangslage, dass in der Musik der Renaissance das »Verhältnis zwischen Text und Musik – insbesondere hinsichtlich der syntaktischen Struktur« von großer Bedeutung war, werden für die Musik dieser Zeit folgende Unterrichtsziele fixiert:

  • Grundlagen
    • SuS singen Kadenzen (Ganzschluss, Halbschluss, phrygische Wendung) und kennen die Namen für die melodischen Wendungen einer Kadenz (Tenor-, Sopran- und Bassklausel).
    • SuS erkennen Kadenzen über das Hören im Kontext (über Kadenzpartituren).
    • SuS bestimmen Alte Tonarten über eine pragmatische Hilfe und unter Umgehung gängiger Vorurteile (dorische Sexte, lydische Quarte).
    • SuS erklären die Beziehung zwischen Text und Musik in der Musik des 16. Jahrhunderts.
    • SuS unterscheiden Motetten und Madrigale über das Hören.
  • Fortgeschritten
    • SuS bestimmen Alte Tonarten über Kadenzorte und Melodiewendungen.
    • SuS können die aufführungspraktischen Besonderheiten improvisierter Chromatik benennen.

Grundlagen

Grundlagen

Kadenzen und Klauseln

  • SuS singen Kadenzen (Ganzschluss, Halbschluss, phrygische Wendung) als Kanon und kennen die Namen für die melodischen Wendungen einer Kadenz (Tenor-, Sopran- und Bassklausel).

Kadenzen im Kontext erkennen

Schülerinnen und Schüler singen Kadenzpartituren und erkennen Klauseln (Kadenzen) in kompositorischen Kontexten. Das folgende Beispiel zeigt die Kadenzpartitur des Beginns des Magnificat primi toni von G. P. da Palestrina:

Aufgabe

Du hast die Kadenzpartitur über das Hören kennengelernt. Im folgenden siehst du die achtstimmige Partitur von G. P. da Palestrina. Mache dir anhand der Kadenzpartitur oben klar, in welchen Takten der Partitur du die Sopranklauseln als Signal für die Kadenz finden kannst. Suche anschließend in den entsprechenden Takten der Partitur (unten) nach den Sopranklauseln und markiere mit einem Farbstift den Takt.
Kannst du in dieses Takten auch noch eine Tenorklausel und/oder Bassklausel erkennen? Stelle dir hierzu noch einmal den Kadenzkanon vor, in dem diese beiden Klauseln vorkommen. Markiere auch diese Klauseln, falls du sie finden kannst, mit einem Farbstift, so dass jede Klausel eine eigene Farbe hat.

Alte Tonarten bestimmen

Das Thema Alte Tonarten ist hochkomplex und dürfte in der Schule nur ansatzweise vermittelbar sein. Soll es dennoch angesprochen werden, bietet sich eine pragmatische Vorgehensweise unter Berücksichtigung der Finalis und der Generalvorzeichnung an.

Text und Kadenzen

Im Arbeitsbogen hast du auch schon den Text des Magnificat-Anfangs lesen können. Er lautet:

Anima mea Dominum.
Et exulatvit spiritus meus in Deo salutari meo.
Quia respixit humilitatem ancillae suae:

Der Text wird nun durch die Kadenzen wie folgt gegliedert:

Text

Kadenz

Wirkung (stark/schwach)

Anima mea Dominum.

g-Kadenz (Takt 3/4)

schwach

Anima mea Dominum.

g-Kadenz (Takt 5/6)

stark

Et exulatvit

g-Kadenz (Takt 7/8)

schwach

spiritus meus

d-Kadenz (Takt 10/11)

stark

in Deo salutari meo.

b-Kadenz (Takt 14/15)

stark

salutari meo.

g-Kadenz (Takt 16/17)

schwach

Quia respixit humilitatem ancillae suae:

f-Kadenz (Takt 22/23)

stark

Aufgabe

Eine Magnificat-Vertonung des 16. Jahrhunderts funktioniert grundsätzlich wie die Vertonung eines Mess-, Motetten- oder Liedtextes. Erarbeitet euch eine Definition für Motetten, Mess- und Magnificatsätze des 16. Jahrhunderts.

Motette und Madrigal

Der Unterschied zwischen einer Motette und einem Madrigal lässt sich zwar definieren, doch sind solche die Definitionen sehr technisch und wenig anschaulich. Dabei wird in der Regel übersehen, dass sich die Unterschiede ähnlich leicht hören lassen, wie man die Unterschiede zwischen Bildern der Hochrenaissance und der manieristischer Malerei sehen kann. Dazu können die beiden folgenden Bilder verglichen werden:

Und im Anschluss daran die beiden Ausschnitte aus den beiden folgenden Musikwerken:

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G. P. da Palestrina: Sicut Servus, Quelle: YouTube

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J. H. Schein, Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten, Quelle: YouTube

Merkmale einer motettischen Komposition (Aufnahme im oberen Player) sind:

  • gleichmäßiger Puls,
  • wenig Dissonanzen und
  • wenig Chromatik.

Merkmale einer madrigalistischen Komposition (Aufnahme im unteren Player) sind:

  • Pulswechsel (Beschleunigung/Verlangsamung) durch den Wechsel von schnellen und langsamen Notenwerten,
  • viele Dissonanzen, oft mit unerwarteten Auflösungen und
  • viel Chromatik in den Einzelstimmen und auch in den Klangverbindungen.
Achtung!

Ein geistlicher oder weltlicher Text ist kein sicheres Merkmal zur Unterscheidung von Motetten und Madrigalen, da es sowohl Madrigale mit geistlichem als auch Motetten mit weltlichen Texten gibt.

Fortgeschritten

Fortgeschritten

Alte Tonarten über Kadenzorte bestimmen

Für eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Thema Alte Tonarten ist es aus fachwissenschaftlicher Sicht wichtig, den Begriff der Tonart von dem Begriff der Skala zu trennen und damit wesentliche Unterschiede zum modernen Tonartenbegriff sichtbar zu machen.

Anmerkung

Im modernen Denken werden Tonart und Skala gekoppelt (zwei b-Vorzeichen sind an die Tonarten B-Dur oder g-Moll gekoppelt). Das gilt auch für den Jazz, in dem Tonartbegriffe (z.B. Lydisch) und Skalen (z.B. c-d-e-f*#*-g-a-h-c) miteinander verbunden werden.
Im Gegensatz dazu stehen Tonart und Skala in der Musik der Renaissance in einem lockeren Verhältnis, da es auf der einen Seite nur zwei Skalen gab:

  • Skala durus: c-d-e-f-g-a-h-c und
  • Skala mollis: c-d-e-f-g-a-b-c.

Diesen Skalen standen im sogenannten kirchlich-abendländischen System acht Modi gegenüber:

  • 1. und 2. Modus: Dorisch und Hypodorisch
  • 2. und 4. Modus: Phrygisch und Hypophrygisch
  • 5. und 6. Modus: Lydisch und Hypolydisch
  • 7. und 8. Modus: Mixolydisch und Hypomixolydisch.

Darüber hinaus werden seit Neuerungen Glareans (Dodekachordon, 1547) im sogenannten pseudoklassischen Systems auch die folgenden Tonarten genannt:

  • Äolisch und Hypoäolisch und
  • Ionisch und Hypoionisch

In Verbindung mit den gängigen Transpositionen ist das Gebiet der Alten Tonarten äußerst komplex und wurde in der Forschung entsprechend kontrovers diskutiert (vgl. hierzu Bernhard Meier, Carl Dahlhaus, Powers und andere).

Ein Aspekt alter Tonarten, das in Verbindung mit den Kadenzpartituren vermittelbar erscheint, liegt in der Disposition der Kadenzen. Bernhard Meier (1994, S. 181) gibt für die bekannten acht Modi die folgenden Kadenzorte an:

Tonart

Kadenzen 1. Ranges

Kadenzen 2. Ranges

Kadenzen 3. Ranges

1. Modus

d, d'

a

f

2. Modus

d

A und f

a

3. Modus

e, e'

a, selten c

g

4. Modus

e

a

g, c

5. Modus

f, f'

c'

a

6. Modus

f

c und a

c'

7. Modus

g, g'

d'

c'

8. Modus

g

c' und d

d'

Stimmbücher und improvisierte Chromatik

Früher gab es noch keine Chorpartituren im heutigen Sinn. Das heißt, Sängerinnen und Sängern standen zum Musizieren nur Stimmen (ohne Taktstriche) zur Verfügung. Chromatik wurde nur in Ausnahmefällen notiert, wobei Komponisten davon ausgehen konnten, dass von gut ausgebildeten Sängerinnen und Sängern einige Regeln zur Anwendung von Chromatik beachtet wurden:

  • Die Wechselnoten unter d, g und a sollten wie fa-mi-fa gesungen werden (»cantari sicut fa-mi-fa«). Dadurch werden in den Kadenzen ohne natürlichen Leitton Sopranklauseln mit einem Leitton gesungen, also
    • d-c#-d,
    • g-f#-g bzw.
    • a-g#-a.
  • Die Wechselnoten über a und d sollten als fa gesungen werden (»una nota super la, semper est canendum fa«), also wie
    • a-b-a oder
    • d-es-d.

Durch die Stammtöne c, d, e, f, g, a, b, h und c, die Leittöne cis, fis und gis sowie den Una-Nota-Ton gab es zumindest in der Praxis schon im 16. Jahrhundert eine vollständige chromatische Skala:

Manieristischer Kontrapunkt

  1. Heinrich Schütz, »So fahr ich hin« aus der Geistlichen Chormusik (1648)
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Heinrich Schütz, So fahr ich hin zu Jesu Christ SWV 379, La Chapelle Royale, Ltg.: Philippe Herreweghe, Quelle: YouTube

Unterrichtsgespräch: Textausdeutung durch manieristischen Kontrapunkt

  • »so schlaf ich ein« → doppelte Notenwerte (weiße Notation)
  • »und ruhe« → gedehnte Dissonanz als Symbol des Sterbens
  • »fein« → Abschluss mit picardischer Terz (Dur) als Symbol göttlicher Erlösung.