Die Synkopendissonanz in der Mehrstimmigkeit

Die 7-6- bzw. 2-3-Synkopendissonanz ist elementar für eine Verständnis von Kadenzen in tonaler Musik, bietet darüber hinaus jedoch auch eine Möglichkeit, die Entstehung komplexer Akkorde zu erklären. Wenn du weißt, wie eine Synkopendissonanz technisch funktioniert, kannst du in diesem Tutorial lernen, wie man aus der 7-6- bzw. 2-3-Synkopendissonanz Quart- und Nonenvorhalte herleiten und manieristische Klangbildungen in Madrigalmusik zum Anfang des 17. Jahrhunderts erklären kann.


Inhalt

Die Synkopendissonanz als Quarte

Wird für die Dreistimmigkeit eine Unterstimme ergänzt, entsteht durch eine Unterquinte zur Agensstimme aus moderner Sicht ein Quartvorhalt:

--:-- / --:--

Die Septimendissonanz als Non- und Septnonklang

Durch Ergänzung einer Unterterz zur Agensstimme entsteht aus moderner Sicht ein Nonvorhalt:

--:-- / --:--

Ein Septnonklang in kontrapunktischer Musik wie beispielsweise in einem Madrigal des frühen 17. Jahrhunderts lässt sich nach dem bisher Gesagten als eine Schichtung von zwei Septim-Synkopendissonanzen verstehen. Das folgende Beispiel zeigt zwei ineinander verschachtelte Septimen-Synkopendissonanzen, in der zwei Agensstimmen (c und e = blau) jeweils eine Dissonanz auslösen (h und d = rot):

--:-- / --:--

Beispiele

O Mirtillo, Mirtillo anima mia von Claudio Monteverdi

Septnonklänge finden sich zum Beispiel in dem Madrigal O Mirtillo, Mirtillo anima mia von Claudio Monteverdi (1605). Zu dem Text »che chiami crudelissima Amarilli« (die Du die grausamsten Amarilli nennst) komponiert Monteverdi ausdrucksvolle Synkopenketten, an deren Höhepunkt zwei Klänge (= grün beim Verschieben des Reglers in der Abbildung) mit Septime und None zu hören sind (die None allerdings in Form einer Sekunde im Tenor). Der Klang dazwischen (= rot) verweist dabei auf kontrapunktisches Denken, denn ein ›Quartsextakkord‹, in dem der Quartvorhalt und seine Auflösung gleichzeitig erklingen, wäre in dur-moll-tonaler Musik nicht sinnvoll und nur schwer vorstellbar:

--:-- / --:--

Claudio Monteverdi – O Mirtillo, Mirtillo anima mia | Les Arts Florissants, Leitung: Paul Agnew, 2013
Quelle: YouTube

Out from the Vale von John Ward

Ein Undezimklang in kontrapunktischer Musik ist extrem selten. Ein solcher Klang bildet den Höhepunkt einer Synkopenstelle in dem Madrigal Out from the Vale (1613) von John Ward (= grün beim Verschieben des Reglers in der Abbildung):

--:-- / --:--

Der einzigartige Klang über dem c des Basses lässt sich als Verschachtelung von drei Septimen-Synkopendissonanzen verstehen, in der die drei Agensstimmen c, es und g (= blau) jeweils die Septimen-Synkopendissonanzen b, d und f (= rot) auslösen. Jeder Ton des konsonanten Dreiklangs c-es-g wird somit zur Agensstimme, alles zusammen bewirkt eine Dissonanz, die sich aus moderner Sicht als Undezimakkord verstehen lässt:

--:-- / --:--

Diese extreme Dissonanzschichtung zieht allerdings satztechnische Probleme nach sich und funktioniert auch nur in einer spezifischen Lage, weil die stufenweise Abwärtsauflösung aller drei Patiensstimmen zu offenen Quintparallelen führen kann:

--:-- / --:--

Si ch'io vorrei morire aus dem 4. Madrigalbuch von Claudio Monteverdi

Aus moderner Sicht lassen sich in Musik des frühen 17. Jahrhunderts einfache oder ineinandergeschachtelte Synkopendissonanzen in der Drei- oder Mehrstimmigkeit als Tontrauben bzw. Cluster (miss)verstehen. Diese Perspektive veranschaulicht zwar gut die Modernität der außergewöhnlichen Klangbildungen um 1630, verdeckt jedoch den Blick auf die satztechnische und ästhetische Besonderheit einer Renaissance-Musik gegenüber Klangerscheinungen aus der Musik des 20. Jahrhunderts. Ein sich aufwärtsschiebendes Dreitonfeld charakterisiert zum Beispiel eine ganz besondere Passage in dem Madrigal Si ch'io vorrei morire aus dem 4. Madrigalbuch von Claudio Monteverdi (1603 veröffentlicht). Es schiebt sich spannungssteigernd aufwärts, ehe es in eine Tontraube aus fünf Tönen mündet. Dabei werden alle Dissonanzen korrekt behandelt (vorbereitet und aufgelöst). Beim Verschieben des Sliders der folgenden Abbildung werden die konsonierenden Agensstimmen wieder blau und die dissonierenden Patiensstimmen rot markiert:

--:-- / --:--

Claudio Monteverdi – Sì ch'io vorrei morire | Concerto Italiano, Leitung: Rinaldo Alessandrini
Quelle: YouTube

Die klangliche Modernität wird deutlich, wenn man die Stimmführung vernachlässigt und nur die Zusammenklänge dieser Stelle betrachtet:

--:-- / --:--

Draw on sweet Night von John Wilbye

Sehr beeindruckend ist auch eine Passage aus dem Madrigal Draw on sweet Night von John Wilbye (1609):

--:-- / --:--

John Wilbye – Draw on sweet night | Hillard Ensemble
Quelle: YouTube

Dieser Passage liegt ein Oktavgang aufwärts im Bass zugrunde (A-a, beim Berühren der Abbildung grün markiert), der an zwei Stellen unterbrochen wird: vom cis zum d und vom fis zum g. In Madrigalmusik dieser Zeit werden Stufengänge dieser Art gerne mit Vorhalten inszeniert, ein besonderes klangliches Ereignis bildet die Traube aus fünf Tönen (d-e-fis-g-a = rot markiert), die durch einen Doppelvorhalt bewirkt wird (d-cis und fis-e). Ihr folgt zwei Takte später ein − in moderner Terminologie − G-Dur-Septnonakkord, der über einen zwischendominantischen Dominantseptakkord mit frei eingesprungener Septime erreicht wird (= die zweite rot markierte Stelle). Diese Wendung könnte beinahe Bestandteil eines Chorsatzes des 19. Jahrhunderts sein (z.B. eines Chorsatzes von F. Mendelssohn). Aus historischer Perspektive jedoch besteht der scheinbare G-Dur-Septnonakkord wie bei Monteverdi aus einem Dreiklang (g-h-d) und zwei Septimensynkopen (a-g und fis-e), wobei das angesprungene c im 17. Jahrhundert als heterolepsis bezeichnet worden wäre.