Die Oberquintmodulation

Eine in der Literatur sehr häufig anzutreffende Modulation führt von einer Ausgangstonart in die Tonart der Oberquinte. In fast alle größeren Kompositionen in Dur (und auch einigen in Moll) lässt sich eine solche Modulation beobachten. In diesem Tutorial lernst du die historischen Wurzeln für diese Modulation kennen und viele Beispiele, welche Formen sie annehmen und wie sie klingen kann.

Inhalt

Entstehung

Die Satztechnik vor 1650

Die Wurzeln für eine bestimmte Form der Oberquintmodulation lassen sich in der Zeit der klassischen Vokalpolyphonie finden. Für Kompositionen einer duralen Tonart waren die Finalis (I) und die Confinalis (V) als Klauselstufen von besonderer Bedeutung, für den C-Modus also die Töne C und G und für den F-Modus die Töne F und C. Das folgende Musikbeispiel zeigt den Anfang des zweistimmigen Quia fecit mihi magna aus dem Magnificat quinti Toni von Jacobus Vaet:

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Die zweistimmige Komposition beginnt und endet (in der Abbildung nicht mehr zu sehen) mit der Finalis F, wobei Diskant und Altus über weite Strecken im Unterquintkanon geführt werden. Der Kanon ist am Anfang etwas versteckt, weil die Nachahmung nicht real, sondern modal erfolgt (die wichtigsten Töne F-C im Diskant werden im Altus nicht mit C-G, sondern mit C-F beantwortet). Typisch für Kompositionen dieser Zeit ist das fuggir la cadenza (das ›Flüchten der Kadenz‹). Im Beispiel oben zeigt sich diese Technik darin, das in den Kadenzen jeweils nur eine Stimme in die Finalis geführt wird, während die zweite pausiert und anschließend neu einsetzt. Die erste Kadenz führt auf die Finalis F (erste Markierung), die zweite auf die Confinalis C (zweite Markierung). Für ein Verständnis der Oberquintmodulation ist die stufenweise Bewegung der Unterstimme zum Ton C in der zweiten Kadenz wichtig: f-e-d-c (durch den Balken gekennzeichnet).

Generalbass

Die Satztechnik nach 1650

Da die Vokalmusik des 16. Jahrhunderts für die Entwicklung der Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts von Bedeutung war, verwundert es wenig, dass sich auch in vielen Instrumentalwerken dieser Zeit nach einer Kadenz in der Grundtonart eine Kadenz in der Oberquinttonart findet. Das folgende Beispiel ist aus der Triosonate in F-Dur Op. 3, Nr. I von Arcangelo Corelli:

Quelle: Wikimedia

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Ensemble Giardino di Delizie | Quelle: YouTube

Die erste Taktgruppe (T. 1−4) endet mit einer Kadenz in der Ausgangstonart F-Dur. Anschließend wendet sich die Musik in die Tonart der V. Stufe C-Dur. Wie im »Quia fecit mihi magna« von Jacobus Vaet lässt sich die harmonische Bewegung von der I. zur V. Stufe über eine Tonleiterbewegung verstehen (siehe Balken). Nur ist die Tonleiterstruktur f-e-d-c in diesem Fall schwieriger zu erkennen, weil sie von die Achtelverzierung (Diminution) der Bassstimme verdeckt wird. Im Anschluss an die Modulation festigt Corelli die Oberquinttonart C-Dur durch zweifache Kadenz mit Trugschluss, die in der Forschung auch als L’Aria di Fiorenza bezeichnet wird.

Generalbass

In sehr vielen Generalbassanleitungen des 17. und 18. Jahrhunderts wird die Oberquintmodulation mit einer Standardharmonisierung über die Regola del'ottava gelehrt. In der Regola erklingt die Oberquintmodulation in den ersten vier Tönen der Abwärtsbewegung, also in der F-Dur-Tonleiter bei Spiel der Töne f-e-d-c im Bass:

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Der bedeutende Wechsel von der I. zur V. Stufe einer Tonart, den man in nahezu jeder Dur-Komposition des 17. und 18. Jahrhunderts entdecken kann, haben Komponisten im späten 17. und 18. Jahrhundert also schon zum Beginn ihrer Ausbildung über die Regola dell'ottava und dem Generalbassspiel erlernen können (oben das linke Beispiel). Die Regola abwärts als Übung zur Oberquintmodulation aufzufassen ist dabei auch aus historischer Perspektive sinnvoll, denn in dieser Akkordfolge versteckt sich das zweimalige Zusammenspiel von Sopran- und Tenorklausel (zwei kontrapunktische Kadenzen auf c und f, rechtes Beispiel).

Sehr interessant in dem Beispiel von Corelli ist im Hinblick auf die Regola-Harmonisierung auch ein Durchgangston: das h bzw. das vierte Achtel im Bass am Anfang der Oberquintmodulation:

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Durch dieses h in Verbindung mit den Tönen f und a der Oberstimmen hören wir kurz einen dominantischen Klang, der das C-Dur vorbereit (h-f-a als Variante eines dominantischen G-Dur). Misst man diesem Klang Bedeutung zu, beginnt die Oberquintmodulation von F-Dur nach C-Dur mit der Akkordfolge F-Dur, G-Dur und C-Dur, worin man letztendlich eine Kombination der in der Regola dell'ottava gegebenen Harmonisierungsmöglichkeiten sehen kann. Das lässt sich veranschaulichen, wenn man den zweiten Abschnitt der F-Dur-Regola auf das Tonhöhenniveau des ersten Abschnitts transponiert (also b-a-g-f eine Quinte aufwärts zu f-e-d-c):

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Der Sekundakkord ist in den bisherigen Beispielen Durchgangsereignis auf metrisch leichter Zeit gewesen. Doch häufig findet er sich in der Literatur auch auf metrisch schwerer Zeit:

Generalbassbeispiel zur Oberquintmodulation

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Damit auch die Zieltonart in diesem Fall auf einer metrisch schweren Zeit erklingen kann, wird das Modell nicht selten durch einen Septimvorhalt verlängert. Die hier entstehenden Klänge lassen sich in der Zwei- und Dreistimmigkeit sowohl als Quartvorhalt der Dominante als auch als II-V-I-Kadenzharmonik in der Zieltonart interpretieren. Theorie- und kompositionsgeschichtlich ist vermutlich die erste Interpretation häufig zutreffender, heute kann man sich jedoch des Eindrucks einer harmonischen Beschleunigung und eines kadenziellen II-V-I-Abschlusses nur schwer entziehen. Die oben gezeigte Ausprägung des Modells findet sich beispielsweise im Grave der Triosonate in B-Dur Op. 3, Nr. III von A. Corelli. Zum besseren Vergleich wurde auch dieses Beispiel nach F-Dur transponiert:

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Komponisten

Beispiele

Johann Sebastian Bach

Wenn man auf die Abfolge der Harmonien achtet (F-Dur / G-Dur / C-Dur / d-Moll / G-Dur / C-Dur) und von der real komponierten Stimmführung abstrahiert, kann man das Oberquintmodulationsmodell in zahlreichen kleineren und größeren Kompositionen des 18. Jahrhunderts entdecken wie zum Beispiel in dem Präludium in C-Dur BWV 939 von Johann Sebastian Bach. Auch dieses Stück ist für den einfacheren Vergleich nach F-Dur transponiert worden:

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Das nächste Beispiel zeigt den Gerüstsatz sowie eine Oberquintmodulation im Orgelwerk von Johann Sebastian Bach. Beachte die 6-5-Seitenbewegung zum Bass (a-g) am Beginn des Modells, durch das aus harmonischer Perspektive ein a-Moll vor dem Sekundakkord erklingt, das sich als ii. Stufe in der Zieltonart interpretieren lässt.

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Wolfgang Amadé Mozart

Während die Kombination von Sekundakkord am Anfang und II-V-I-Abschluss am Ende der Oberquintmodulation für das Generalbasszeitalter sehr charakteristisch ist, verwendet Wolfgang Amadé Mozart diese Form nur vereinzelt wie beispielsweise im Menuett des Streichquartetts in G-Dur KV 156:

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Anhand dieses Beispiels lässt sich allerdings ersehen, dass Mozart einzelne Akkordverbindungen des Oberquintmodulationsmodells wiederholt (im Beispiel oben die Wendung A-Dur / D-Dur). Stelle dir deshalb die Harmoniefolge des Modells wie eine "Schiene" vor, auf der der ›Zug Oberquintmodulation‹ nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts und anschließend wieder vorwärts fahren kann. Darüber hinaus ist es natürlich auch möglich, die Harmoniefolge bzw. Taktgruppe (Modulation) als Ganzes zu wiederholen.
Für die Oberquintmodulation bei Mozart können die in der Regola dell'ottava abwärts erklingenden Harmonien (vom 8. bis 5. Ton) mit oder ohne abschließende II-V-I-Wendung und einem nachfolgenden Halbschluss als ein Standard für die Formfunktion Überleitung bezeichnet werden:

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Solche Modulationen sind im Werk Mozarts ausgesprochen häufig anzutreffen. Ohne eine abschließende ii-V-I-Wendung erklingt die Modulation in die Oberquinte beispielsweise im 3. Satz der berühmten Sonate ›facile‹ in C-Dur KV 545:

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Klavier: Mitsuko Uchida, Quelle: YouTube

Und mit einer abschließenden ii-V-I-Wendung ist die Harmonik im 3. Satz der Klaviersonate in D-Dur KV 311 zu hören:

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Mitsuko Uchida, Quelle: YouTube

Recherche-Aufgabe

Recherchiere in diesem Datenbankprojekt Kompositionen von W. A. Mozart, in denen du dir Beispiele für Überleitung mit dieser Standardharmonisierung kennenlernen kannst. Verwende zum Auffinden der beiden oben gezeigten Möglichkeiten die Chiffrierungen: 4G-3T-2Q-1G oder 4G-3T-2g-2Q-1G.

In einer kompositionsgeschichtlich interessanten Ausprägung beginnt das Modell anstelle des Durakkords mit einem Mollakkord:

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Auf den ersten Blick ist die Variation sehr unscheinbar und man muss wegen des gleichen Außenstimmensatzes schon sehr aufmerksam zuhören, um den Unterschied überhaupt erkennen zu können. Ausarbeitungen dieser Harmoniefolge können vollkommen unspektakulär klingen wie zum Beispiel im 3. Satz der Klaviersonate in F-Dur KV 280:

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Klavier: Mitsuko Uchida, Quelle: YouTube

Allerdings hat Mozart seit Ende der 1770er Jahre den Basston des ersten Akkords verändert sowie zwischen dem einleitenden Mollakkord und dem Beginn der abschließenden ii-V-I-Wendung einen zwischendominantischen Klang verwendet:

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Diese Form der Oberquintmodulation hat Mozart dann sehr effektvoll beispielsweise in der 1778 in Mannheim entstandenen Sonate für Violine und Klavier in Es-Dur KV 302, der wahrscheinlich im selben Jahr in Paris entstandenen Klaviersonate in F-Dur KV 332 oder der 1785 in Wien entstandenen Sonate für Klavier und Violine in Es-Dur KV 481 ausgearbeitet. Insbesondere der Beginn mit einem Moll-Grundakkord, der zur Dur-Ausgangstonart einen starken Kontrast bildet, dürfte im Hinblick auf die F-Dur Sonate KV 332 dazu geführt haben, dass angesichts der Originalität die Nähe zur Regola dell'ottava nicht bemerkt worden ist:

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Hammerflügel: Brigitte Hertel, Quelle: YouTube

Ludwig v. Beethoven

Im 19. Jahrhundert bleibt die in der Regola wurzelnde Oberquintmodulation ein beliebtes Kompositionsmodell. Ludwig van Beethoven beispielsweise experimentiert in den Kopfsätzen seiner Klaviersonaten mit der Oberquintmodulation und gewinnt dem Modell hier ganz neue Wirkungen ab. In kleineren Werken wie dem Variationsthema des II. Satzes der Sonate für Violine und Klavier in D-Dur Op. 12, Nr. 1 finden sich Oberquintmodulationen auch bei Beethoven noch in ganz traditioneller Form:

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Violine: Arthur Grumiaux, Klavier: Clara Haskil, Erstveröffentlichung: 1956/1957, Lizenz: CC0 / Public Domain

Robert Schumann

Dass Robert Schumann das Oberquintmodulationsmodell gekannt hat, lässt sich an vielen Kompositionen ersehen. Der Jugend zum Üben empfohlen hat er es durch ein kleines Stückchen, das sehr bekannt geworden ist: »Fröhlicher Landmann / von der Arbeit zurückkehrend«.

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Quelle: YouTube

Johannes Brahms

Das Modell mit Standardharmonisierung charakterisiert auch die Oberquintmodulation in dem Walzer in E-Dur Op. 39, Nr. 2 von Johannes Brahms:

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Johannes Brahms, Walzer Op. 39, Nr. 5, Piano: Martha Goldstein, Label: Pandora Records, Meany Hall at the University of WA, Lizenz: CC BY (EFF-Lizenz)

Sergei W. Rachmaninow

Und aus der Perspektive des Modells ist trotz der Abweichungen (die entsprechenden Töne sind rot markiert) der harmonische Weg von F-Dur nach C-Dur in dem Lied "Morgen" Op. 4, Nr. 2 (1890−1893) von Sergei W. Rachmaninow leicht zu verstehen:

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S. W. Rachmaninoff, Morgen, Op. 4, Nr. 2, Gesang: Dmitri Hvorostovsky, Klavier: Mikhail Arkadiev, Quelle: YouTube