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Im wunderschönen Monat Mai von Robert Schumann

Die Dichterliebe schrieb Robert Schumann in seinem sogenannten Liederjahr 1840, in dem er nach einer juristischen Auseinandersetzung endlich die Pianistin Clara Wieck heiraten durfte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Schumann beinahe ausschließlich Klaviermusik komponiert, im Jahr 1840 entstanden fast 140 seiner berühmt gewordenen Lieder. 16 Lieder nach Texten von Heinrich Heine ließ Schumann 1844 unter dem Titel Dichterliebe als sein Op. 48 beim Verlag Peters in Leipzig drucken.

Anhand des ersten Liedes »Im wunderschönen Monat Mai« des Dichterliebe-Zyklus von Schumann nach Texten von Heine werden verschiedene Perspektiven der musikalischen Analyse erprobt und zu einer Interpretation zusammengefasst.

Inhalt

Op. 48, Nr. 1

Perspektiven der musikalischen Analyse

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Robert Schumann, »Im wunderschönen Monat Mai« aus: Dichterliebe, Op. 48, Nr. 1, nach einem Text von Heinrich Heine, Quelle: Youtube

Motiv

Perspektive Motiv: Funktionen motivischer Gestaltungen

Die motivische Analyse ist eine verbreitete Methode, wenn ein musikalischer Zusammenhang erklärt werden soll. Hugo Riemann schrieb in der ersten Ausgabe seines berühmten Musiklexikons:

Motive nennt man in der Musik wie in der Architektur die letzten charakteristischen Glieder eines Kunstgebildes. Man spricht zunächst von rhythmischen Motiven [...] Nicht immer decken sich rhythmisches Motiv und Metrum [...], das rhythmische Motiv kann zum Beispiel zweiteilig sein bei dreiteiliger Taktart etc. [...] Melodische Motive nennt man im Verlauf eines Themas mehrfach wiederkehrende Stimmschritte, welche dem Thema ein charakteristisches Gepräge geben [...] Endlich unterscheidet man noch harmonische Motive, d.h. Akkordverbindungen, die transponiert in anderen Tonlagen wiederkehren und wie die rhythmischen und melodischen Motive als lebendige Glieder des Kunstgefüges hervortreten. In den seltensten Fällen aber arbeiten die Komponisten mit Motiven, die nur in einer Hinsicht charakteristisch sind. Besonders pflegen Melodik und Rhythmik sich zu verbinden, während die harmonische Behandlung der Motive wechselt.

Hugo Riemann nimmt drei verschiedene Arten von Motiven an:

  • rhythmische Motive
  • melodische Motive und
  • harmonische Motive.

Es wird allgemein angenommen, dass Motive einen musikalischen Zusammenhang erzeugen. Weniger bekannt ist, dass Motiven einen Zusammenhang teilen können. Das veranschaulicht das folgende Beispiel:

Diese Tonleiter bildet ganz ohne Motive einen musikalischen Zusammenhang im Sinne einer guten Gestalt. Startet man beispielsweise die Aufnahme der Tonleiter und stoppt diese nach fünf Noten, kann man die restlichen Töne leicht ergänzen. Das folgende Beispiel zeigt eine Ausarbeitung der Tonleiter durch ein Motiv:

Aufgrund der motivischen Ausarbeitung nehmen wir die Struktur der Tonleiter immer noch als einen Zusammenhang war. Die Motive allerdings bewirken, dass wir den Zusammenhang der Tonleiter in vier Abschnitten hören. Eine andere motivische Gestaltung kann bewirken, dass wir die Tonleiter acht Einheiten hören können:

Während melodische Motive einen Zusammenhang für unsere Wahrnehmung teilen können, kann der Rhythmus des Motivs eine gute Gestalt erzeugen, die wir als einen Zusammenhang wahrnehmen können. Deswegen ist es z.B. nicht schwer, den Rhythmus des Motivs weiterzudenken:

Die folgende Notenabbildung zeigt Möglichkeiten, das Lied »Im wunderschönen Monat Mai« aus der Perspektive einer motivischen Analyse zu betrachten:

Folgende Erkenntnisse können eine motivische Analyse vermitteln:

  • rot: Motiv (Sexte mit zwei Sekundschritten in Gegenbewegung), durch dieses Motiv hören wir eine Zweitaktigkeit. die Aufwärtsbewegung in der Klavieroberstimme hat öffnenden, die Gesangsstimme mit der Spiegelung des Motivs schließenden Charakter (Frage-Antwort).
  • rosa: Motivvariante, die eine Verbindung zwischen den Zweitaktgruppen schafft.
  • grün: Motivstruktur (3-2-1 und 2-3-4 | 4-5-6 als Sekundbewegung), die am Anfang der Strophen einen schließenden Charakter hat (3-2-1), während das Ende der Strophen in der Gesangsmelodie auffällig nach oben führt und dadurch öffnend wirkt (2-3-4-5-6).
  • blau: kleine Sekundbewegung im Bass (d-c# / g-f# und b-a)
  • gelb: Dreiklangsbrechungen, die mit dem Motiv eine ruhige, durchgehende Sechzehntelbewegung ergibt.

Satzmodell

Perspektive Satzmodell: Stimmführung und Harmonik

Als Satzmodelle werden ›Satztypen und -formeln des 15. und 16. Jahrhunderts‹ bezeichnet, auf die der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus in seiner Habilitationsschrift hingewiesen hat. Aufgrund der didaktischen Möglichkeiten (Satzmodelle eignen sich zur Analyse, Stilübung, Gehörbildung und Höranalyse gleichermaßen) sind diese Formeln heute im Musiktheorie- und Gehörbildungsunterricht an vielen Musikhochschulen eine Selbstverständlichkeit. Wir nutzen Satzmodelle an dieser Stelle, um das Lied »Im wunderschönen Monat Mai« zu analysieren.

Mit den folgenden Satzmodellen lässt sich die Harmonik dies Liedes bis auf wenige Stellen erklären:

  • phrygische Wendung (zweitaktig, entspricht der motivischen Gestaltung) in fis-Moll
  • Kadenz in A-Dur mit ii-V-I-Quintfallharmonik: h-Moll → E-Dur → A-Dur
  • Parallelismus-Ausschnitt Fis-Dur → h-Moll → A-Dur → D-Dur
  • Quintfallharmonik A-Dur → D-Dur → gis-halbvermindert → Cis-Dur zur Verschränkung des Parallelismus mit der phrügischen Wendung (Verbindung zur zweiten Strophe)

Funktionstheorie

Perspektive Funktionstheorie: Interpretation von Harmonik

Hugo Riemann war der Erfinder einer spekulativen und komplexen Theorie der Kadenzharmonik, die er über konsonante Hauptfunktionen und davon abgeleitete Auffassungsdissonanzen beschrieb. Viele Autoren wie Max Reger und Hermann Grabner haben sich im Anschluss an Riemanns Publikationen um eine Vereinfachung der Funktionstheorie bemüht. Die Analyse in Deutschland hat die maßgeblich durch die Harmonielehre Wilhelm Malers, durch Mahlers Schüler Diether de la Motte (1928−2010) und durch de la Mottes Schüler Clemens Kühn (* 1945) geprägt, die in ihren weit verbreiteten Publikationen des Bärenreiter-Verlags die Funktionstheorie bevorzugt haben. In diesem Tutorial wird die Funktionstheorie verwendet, um sich die harmonisch reizvollen Stellen zu erklären, die sich aus der Perspektive Satzmodelle nicht angemessen beschreiben ließ. Es geht um die folgenden Klangverbindungen:

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In der Analyse bereitet meistens die Verbindung A-Dur → e-Moll Schwierigkeiten, weil in A-Dur ein dominantisches E-Dur erwartet wird und vor diesem Hintergrund der e-Moll-Sextakkord irritierend wirkt. Noch überraschender klingt anschließend die Wendung h-Moll → g-Moll.
In beiden Fällen lösen sich die Irritationen durch die Folgeakkorde auf, denn der e-Moll-Akkord erweist sich als iv. Stufen der Tonart h-Moll und g-Moll ist iv. Stufe der Zieltonart d (eigentlich d-Moll, das dann jedoch picardisch aufgehellt als D-Dur erklingt). Das Erleben dieser farbreichen Klangfolge lässt sich dabei mithilfe der runden Klammern () der Funktionstheorie angemessen chiffrieren:

  • Die öffnende runde Klammer zeigt an, dass es zwischen dem Akkord vor und dem nach der öffnenden Klammer keine unmittelbare Beziehung geben muss.
  • Die schließende runde Klammer zeigt an, dass sich alle Klänge in den runden Klammern auf den Klang nach der schließenden Klammer beziehen.

Der Chiffrierung oben lässt sich daher entnehmen, dass zwischen A-Dur und e-Moll sowie h-Moll und g-Moll keine direkte Beziehung besteht, sondern dass die Akkord e-Moll → Fis-Dur → h-Moll und g-Moll → A-Dur → D-Dur als Einheiten zusammengehören. Das entspricht dem Höreindruck einer terzweise aufwärts führenden Sequenz, wobei sich die Zielakkorde im Hinblick auf die Ausgangstonart funktional deuten lassen (Sp / S bzw. ii / IV Stufe).
Aus motivischer Perspektive wird über die Halbtonschritte im Bass (g-f# und b-a) eine Beziehung zum Anfang ersichtlich. Denn so, wie sich der Anfang h-Moll-Sextakkord → Cis-Dur als phrygische Wendungen in fis-Moll interpretieren lässt, lassen sich die Verbindungen e-Moll-Sextakkord → Fis-Dur und g-Moll-Sextakkord → A-Dur als phrygische Wendungen in h und d auffassen.

Tonart

Perspektive Tonart: stil- und gattungsbezogene Aspekte

Grenzt man den Begriff Tonart auf die Dur-Moll-Tonalität des 17. bis 19. Jh. ein, ist es der Normalfall, dass es eine Grundtonart gibt, die Anfang und Ende einer Komposition charakterisiert, während im Verlauf von Stücken Nebentonarten als Fixpunkte für Tonalitätempfindungen erscheinen können (in Dur-Kompositionen in der Regel die V. und vi. Stufe, in Moll-Kompositionen die iii. und v. Stufe). Vor diesem Hintergrund erweist sich das Lied »Im wunderschönen Monat Mai« als außergewöhnlich:

  • In den ersten vier Takte des Vorspiels sind Halbschlüsse in fis-Moll zu hören und
  • ein h-Moll Akkord dient anschließend als Verbindung zu zwei stabilen ii-V-I-Kadenzen in A-Dur, mit der Schumann die erste Hälfte der ersten Strophe vertont.
  • Die zweite Hälfte der ersten Strophe lässt sich in A-Dur verstehen (Sp / S), im Vordergrund erklingt eine Sequenz, die über die Quintschritte d-gis-cis wieder zurück nach fis-Moll führt (Klavierzwischenspiel). Schumann verschränkt dabei den letzten Takt des Sequenzabschnitts mit dem ersten Takt des Klavierzwischenspiels.
  • Nach einer melodisch-harmonisch identisch gebauten zweiten Strophe erklingt ein Nachspiel, dessen Länge von drei Takten sich wiederum als ein über eine Phrasenverschränkung gestauchter Viertakter verstehen lässt.
  • Schumanns Lied besteht aus sieben Viertaktgruppen (= 28 Takte), aufgrund der beiden Verschränkungen ergibt sich für das ganze Lied eine Länge von 26 Takten.

Musik und Text

Interpretationen: Musik und Text

Trotz der Komplexität im Detail klingt das Lied »Im wunderschönen Monat Mai« von Robert Schumann einfach bzw. einfach schön. Geübten Hörer:innen dürfte sich dabei intuitiv das Öffnen vermittelt, das in der hohen Stimmlage am Ende der Strophen sowie den öffnenden Dominantseptakkorden im Vor-, Zwischen- und Nachspiel greifbar wird. Das Öffnen in diesen fis-Moll-Abschnitten lässt sich – insbesondere gegenüber den schließenden Kadenzwendungen in A-Dur am Anfang der Strophen – auch als Eröffnung und Hinführung zu den folgenden Liedern verstehen.

Natürlich ist es möglich, dieses Öffnen ganz konkret als ein Sehnen nach Liebe bzw. nach der Geliebten zu interpretieren. Das Wechseln zwischen Dur und Moll könnte in diesem Sinne als Wechsel der Gefühle gedeutet werden bzw. als Ausdruck dessen, dass Liebe und Schmerz, Hoffnung und Zweifel eng beieinanderliegen können. Doch ist bei textausdeutenden Interpretationen im 19. Jahrhundert äußerste Vorsicht geboten.

Liebe und Vaterland

Dichter der Texte, die Robert Schumann für seinen Dichterliebe-Zyklus ausgewählt hat, ist Heinrich Heine. Heine erlebte als Jugendlicher den Einzug Napoleons in Düsseldorf und wurde Anhänger der Idee einer Liberté, Égalité, Fraternité! unter den Menschen. Wegen Anfeindungen aufgrund seiner jüdischen Herkunft (z.B. in der sog. Platen-Affäre) sowie Ärger mit der politischen Zensur siedelte Heine 1831 nach Paris über. Heine, der sich in Frankreich auch als Mittler zwischen den Nationen verstand, sehnte sich zeitlebens nach seiner Heimat. Im seinem Gedicht In der Fremde finden sich am Schluss die Zeilen:

III.
Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eichenbaum
Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft.
Es war ein Traum.

Das küßte mich auf deutsch, und sprach auf deutsch
(Man glaubt es kaum
Wie gut es klang) das Wort: »ich liebe dich!«
Es war ein Traum.

Was ist also gemeint, wenn Heine von Liebe und Veilchen spricht? Blümchen und ein Gefühl zwischen zwei Personen im neuzeitlichen Sinne? Oder eine gebrochene, metaphorische Liebe zum Vaterland? Oder vielleicht noch eine ganz andere Liebe?

Politik und Zensur

Politik und Zensur

Die gesellschaftlichen Umstände der Zeit waren für politisch engagierte Dichter wie Heinrich Heine eine nicht ungefährliche Angelegenheit. Er schrieb darüber an seinen Verleger Julius Campe am 20. Dezember 1836:

[...] zu schreiben, während das Censurschwert an einem Haare über meinem Kopfe hängt – das ist um wahnsinnig zu werden!

Die Pressegesetze der Karlsbader Beschlüsse 1819 sahen vor, dass Manuskripte in einem Umfang bis zu 19 Bogen (320 Seiten 10,5 cm × 16,5 cm) von der Behörde vor der Veröffentlichung vorgelegt werden mussten (Vorzensur). Die beanstandeten Passagen wurden dabei durch Streichungen unkenntlich gemacht, wozu Heine eine beißende Kritik im zweiten Band seiner Reisebilder veröffentlicht hat (Abb. links). Das Verbot der Zensurstriche ab 1826 zog dann allerdings kostenintensiven Korrekturen im Verlagswesen nach sich, was zu einer Art Selbstzensur von Autor:innen und Verlagen führte.

Heines Schriften wurden zuerst in Preußen und ab 1835 in allen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes verboten. 1844 wurde sogar ein Grenzhaftbefehl erlassen, um Heine im Falle der Einreise festsetzen zu können. Vor dem Hintergrund von Zensur und Polizeigewalt hatte nach Peter v. Matt das Verklausulieren des Gemeinten in harmlosen wirkenden Liebesgeschichten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts System. Denn Liebe konnte von den Censoren als unschuldiges Gefühl individueller Personen gelesen werden, jedoch darüber hinaus das patriarchale Gesellschaftssystem in Frage stellen. Denn wenn »Mann und Weib, und Weib und Mann« an die Gottheit anreichen, wozu braucht es da noch die Hierarchie männlicher Gottesvertreter (vom Papst bis zum Familienoberhaupt), ohne dessen Segen auf dieser Erde damals gar nichts ging?

Wenn wir bei der Interpretation von Liebe in einem Text aus dem frühen 19. Jahrhundert nur an eine individuelles Gefühl denken, verhalten wir uns da nicht wie die Censoren der damaligen Zeit? Und müsste uns in diesem Fall dann nicht sogar das Urteil Heines treffen? (»Dummköpfe«). Peter von Matt schreibt zu den Dimensionen der Liebe im frühen 19. Jahrhundert:

Die Liebe übersteigt die Liebenden, weil sie das ist, was den Kosmos und die Erde durchwaltet, von Anfang an, vor dem Paar, in dem Paar und nach dem Paar. Das tönt wie ein milder oder rauschender Pantheismus, und es ist auch, wovon hier zu reden ist, ein je nachdem milder oder rauschender Pantheismus, aber damit ist nicht das Resultat benannt, sondern das Problem umrissen. Denn was bei der geistesgeschichtlichen Benennung immer wieder vergessen oder übersehen, vielleicht auch verdrängt wird, ist der aggressiv-agonale Charakter dieser Gegenreligion. Wer in so fundamentalem Sinn von ›der Liebe‹ spricht, der setzt jedesmal einen Akt der Gottesbeseitigung. Sei das der christlich-orthodoxe Vater-Gott, sei es der aufklärerisch-deistische Welt-Baumeister, er wird vom Thron geworfen in jedem Bekenntnis zur Liebe als der allesdurchwaltenden Energie. Die Liebes-Ehrfurcht, die Liebes-Frömmigkeit ist um so ehrfürchtiger und frömmer, je mehr sie durch ihre Hingabe verstecken kann, daß sie zugleich angreift.

Peter von Matt, Liebesverrat, München 1991, S. 20

Differenzerfahrung und Ironie

Differenzerfahrung und Ironie

Die Texte, die Schumann für die Dichterliebe ausgewählt hat, sind Teil einer Sammlung, die Heine nach eigenen Angaben zwischen 1822–1823 gedichtet hat. Als Lyrisches Intermezzo befindet sich diese Sammlung in Heines erstem großen Gedichtband, dem Buch der Lieder (1827). In allen Ausgaben hat Heine dem ersten Gedicht des Lyrischen Intermezzo Im wunderschönen Monat Mai einen Prolog vorangestellt, das Lied vom blöden Ritter:

[1.] Es war mal ein Ritter trübselig und stumm,
Mit hohlen, schneeweißen Wangen;
Er schwankte und schlenderte schlotternd herum,
In dumpfen Träumen befangen.
Er war so hölzern, so täppisch, so links,
Die Blümlein und Mägdlein die kicherten rings,
Wenn er stolpernd vorbeigegangen.

[2.] Oft saß er im finstersten Winkel zu Haus;
Er hatt sich vor Menschen verkrochen.
Da streckte er sehnend die Arme aus,
Doch hat er kein Wörtlein gesprochen.
Kam aber die Mitternachtsstunde heran,
Ein seltsames Singen und Klingen begann -
An die Türe da hört er es pochen.

[...]

[6.] Sie spielen und singen, und singen so schön,
Und heben zum Tanze die Füße;
Dem Ritter dem wollen die Sinne vergehn,
Und fester umschließt er die Süße -
Da löschen auf einmal die Lichter aus,
Der Ritter sitzt wieder ganz einsam zu Haus,
In dem düstern Poetenstübchen.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, das erste Gedicht Im wunderschönen Monat Mai als Wahnvorstellung eines alten, weltentsagenden Ritters im »Poetenstübchen« zu interpretieren und diese gescheiterte Figur mit dem Autor selbst zu identifizieren. Auch die Metapher des Wonnemonats Mai muss keineswegs als Anzeichen für aufkeimende Liebesgefühle gelesen werden, wovon ein anderes Mai-Gedicht aus Heines späterer Zeit zeugt. Die folgende Gegenüberstellung zeigt die beiden Strophen des ersten Gedichts aus dem Lyrischen Intermezzo »Im wunderschönen Monat Mai« sowie Anfang und Schlussstrophe des Gedichts Im Mai:

Im wunderschönen Monat Mai

Im Mai

Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,
Da ist in meinem Herzen
Die Liebe aufgegangen.

Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Vögel sangen,
Da hab ich ihr gestanden
Mein Sehnen und Verlangen.

Die Freunde, die ich geküßt und geliebt,
Die haben das Schlimmste an mir verübt.
Mein Herze bricht; doch droben die Sonne,
Lachend begrüßt sie den Monat der Wonne.

Es blüht der Lenz. Im grünen Wald
Der lustige Vogelgesang erschallt,
Und Mädchen und Blumen, sie lächeln jungfräulich -
O schöne Welt, du bist abscheulich!

[...]

Hier oben aber, wie grausamlich
Sonne und Rosen stechen sie mich!
Mich höhnt der Himmel, der bläulich und mailich -
O schöne Welt, du bist abscheulich!

Aufgrund solcher Indizien wird in der Forschung davon ausgegangen, dass Heines Liebeslyrik als Dekonstruktion der Romantik zu lesen ist. Heine hat sich in seinen Reisebildern gegen die künstlerischen Überformung einer verlorenen Einheit ausgesprochen sowie gegen die Lüge des Kunstversprechens, diese Einheit wieder herstellen zu können. Die Darstellung der Zerrissenheit war Heines selbst erklärtes Ziel seiner dichterischen Arbeit und in der Ironie sah er ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen.

Versöhnung und Humor

Versöhnung und Humor

Eine Frage, um deren Antwort in der Forschung gerungen wird, ist darauf gerichtet, ob Schumann die ästhetischen Positionen Heines geteilt und kompositorisch unterstützt oder Auswahl sowie Art der Komposition so gewählt hat, dass seine Absichten und die von Heine spürbar auseinandertreten. Denn Schumann könnte noch weit mehr an dem Gedanken der Versöhnung von Welt und empfindsamen Menschen gelegen haben als anderen Intellektuellen seiner Zeit. Schumann schreibt:

Die Natur, die hohe Trösterin der Menschheit, nimmt liebend den Sohn in ihre Mutterarme auf und söhnt ihn aus mit dem Menschen, mit der Welt, mit dem Schicksal.

Robert Schumann, zit. nach: Ingo Müller, Maskenspiel und Seelenheil. Zur Ästhetik von Heinrich Heines ›Buch der Lieder‹ und Robert Schumanns Heine Vertonungen, Baden-Baden 2020, S. 380.

Denkt man angesichts dieser Aussage an an das I. Lied der Dichterliebe »Im wunderschönen Monat Mai«, an die Textzeile des XII. Liedes »Sei unsrer Schwester nicht böse, du trauriger, blasser Mann« und an das bewegende Klaviernachspiel des XVI. Liedes, dass den Zyklus beendet und den Gesang der Blumen des XII. Liedes wieder aufgreift, lassen sich Argumente für diese Interpretation finden. Doch auch andere Deutungen sind möglich:

Das Gedicht ›Im wunderschönen Monat Mai‹ begegnet nun, seines verdüsternden Kontextes beraubt, als erstes Gedicht im vertonten Zyklus, und man könnte annehmen, daß Schumann diesen Text in jener aufgelichteten Weise auffaßt, wie er bis heute von vielen Literaturwissenschaftlern sogar noch im Zusammenhang mit dem Prolog gesehen wird [...] Doch Schumann hat offensichtlich zu Heine einen besseren Zugang als die Literaturwissenschaftler [...]

Günter Schnitzler, »Heine und Schumann ›Im wunderschönen Monat Mai‹, in: International Journal of Musicology 7 (1998), S. 180.

Denn nach Schnitzler hat der Komponist in seiner »Vertonung jene Zwiespältigkeit, Gegensätze, Brüche und Abgründe« anlegt, »die man aus dem Gedicht selbst wohl nur mit der Hilfe des Prologs im Zusammenhang des dichterischen Zyklus angemessen herzuleiten vermag«. In diesem Sinne lässt sich z.B. die tonartliche Zerrissenheit zwischen fis-Moll und A-Dur in »In wunderschönen Monat Mai« auch als Chiffre für den Gegensatz von Traum und Wirklichkeit bzw. Künstler und Welt interpretieren. Und gegenüber den ›lieblichen‹ Liedern des Zyklus bilden z.B. das XI. Lied »Ein Jüngling liebt ein Mädchen«, das XIV. Lied, in dem sich ein geheimes Wort ebenso verflüchtig wie ein Traum sowie die letzten beiden Lieder, in denen die Liebe als Illusion sarkastisch in einem Sarg versenkt wird, starke Gegensätze und sinnfällige Kontraste.

Ingo Müller sieht eine weitere Möglichkeiten der Interpretation:

Die eminente Bedeutung von Jean Pauls Romantik-Begriff und seiner Humor-Theorie insbesondere für Schumanns frühes pianistisches Schaffen ist in der Forschung inzwischen weitgehend unbestritten [...] Aus diesem Grund scheint der Versuch auf der Hand zu liegen, das Humor-Konzept für eine Deutung auch von Schumanns Liedschaffen fruchtbar zu machen.

Müller, a.a.O. S. 382.

Indem Widersprüchliches wie z.B. Endliches und Unendliches oder Tragisches und Komisches zu einer Einheit verbunden werden, zwingt der Humor im ästhetischen Sinn des frühen 19. Jahrhunderts das empfindsame Subjekt zur Distanzierung. Jean Paul schreibt über den Wert des Humors:

Der Humor ist ein Geist, der das Ganze durchzieht und unsichtbar beseelt, der also nicht einzelne Glieder vordrängt, mithin nicht stellenweise mit den Fingern zu zeigen ist. Er gewährt als echte Dichtkunst dem Menschen Freilassung [...]

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, Heidelberg 1804, VII. Programm, § 9 »Über die humoristische Dichtkunst«.

Dabei stellt der Humor als ästhetisches Prinzip die Identität des Humoristen in Frage, weshalb sich Humor im 19. Jahrhundert von einer witzigen Alltagseinstellung des 21. Jahrhunderts grundlegend unterschiedet. Humor ist für Jean Paul etwas Existentielles, das den Humoristen »vernichtet«:

Wie die ernste Romantik, so ist auch die komische – im Gegensatz der klassischen Objektivität – die Regentin der Subjektivität. Denn wenn das Komische im verwechselnden Kontraste der subjektiven und objektiven Maxime besteht; so kann ich, da nach dem Obigen die objektive eine verlangte Unendlichkeit sein soll, diese nicht außer mir gedenken und setzen, sondern nur in mir, wo ich ihr die subjektive unterlege. Folglich setz' ich mich selber in diesen Zwiespalt – aber nicht etwa an eine fremde Stelle, wie bei der Komödie geschieht- und zerteile mein Ich in den endlichen und unendlichen Faktor und lasse aus jenem diesen kommen. Da lacht der Mensch, denn er sagt: »Unmöglich! Es ist viel zu toll!« Gewiß! Daher spielt bei jedem Humoristen das Ich die erste Rolle; wo er kann, zieht er sogar seine persönlichen Verhältnisse auf sein komisches Theater, wiewohl nur, um sie poetisch zu vernichten. Da er sein eigner Hofnarr und sein eignes komisches italienisches Masken-Quartett ist, aber auch selber der Regent und Regisseur dazu: so muß der Leser einige Liebe, wenigstens keinen Haß gegen das schreibende Ich mitbringen und dessen Scheinen nicht zum Sein machen [...]

a.a.O. § 34

Hermeneutik

Essentials der Hermeneutik

Peter Seiffert schreibt in seiner Einführung in die Wissenschaftstheorie:

Das heißt: der historisch-hermeneutisch Arbeitende sollte sich hüten, voreilig Hypothesen aufzustellen, solange er sein Material noch nicht gründlich genug kennt. Denn solch vorschnelle Hypothesen erledigen sich im Fortgang der Kenntnisnahme vom Material in der Regel von selbst. Die Meinungen: Bachs Kantaten seien gedruckt, die Kunst der Fuge dagegen nicht; ›Weihersdorf‹ leite sich von einem Weiher ab; und die Frauenkirche sei eine Kirche für Frauen sind [...] schlechtweg Naivitäten, Irrtümer und Mißverständnisse, die sich bei angemessener Beschäftigung mit dem Material von selbst auflösen.

Helmut Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie. 2. Phänomenologie, Hermeneutik und historische Methode, Dialektik, München 1970, zit n. d. 9. Aufl. (= BSR 61) ebd. 1991, S. 130.

Es ist irritierend, wie oft sich bei der Interpretation von Liedertexten in pädagogischen Kontexten eine Vernachlässigung der Essentials hermeneutischer Arbeit beobachten lässt. Denn das vorschnelle Interpretieren historischer Texte, ohne sich ausreichend mit den Schlüsselbegriffen der damaligen Zeit sowie dem zeitgeschichtlichen Kontext auseinandergesetzt zu haben, behindert den Dialog mit dem ästhetischen Gegenstand und ermöglicht bestenfalls eine Beschäftigung mit den eigenen Vorurteilen.

Materialien

Materialien

  • Noten der Originalausgabe (hohe Stimme) von Max Friedlaender, Sämtliche Lieder, Band I (Peters)