Der Quintenturm und polare Interpretationen von Tonarten

Für die Interpretation harmonischer Wendungen ist der Quintenturm im Gegensatz zum Quintenzirkel sehr hilfreich. Denn mit dem Quintenturm verbindet sich die Vorstellung einer räumlichen Dimension bzw. einer Höhe und Tiefe von Tonarten:

Norbert Jürgen Schneider hat zu der Vorstellung von Höhe und Tiefe in der Musik geschrieben (Schneider 1979, 127):

Quintschritte von C abwärts werden als zum ›Dunklen‹, von C aufwärts als zum ›Hellen‹ führend empfunden, − hierin decken sich im Zeitraum von 1600 bis etwa 1900 die Aussagen von Komponisten sowie ästhetische Darstellungen (z. B. bei D. Schubart, E. T. A. Hoffmann) mit Aussagen der Musikpsychologie. Die damit implizierte semantische Entsprechung von ›unten‹ mit ›dunkel‹/›negativ‹ bzw. ›oben‹ mit ›hell‹/›positiv‹ gilt in der Psychologie für den abendländischen Raum als gesichert; die Konnotationsfelder ›Fallen‹, ›Sturz‹, ›Tod‹, ›Schwärze‹ für ›negativ‹ bzw. ›Sonne‹, ›Aufstieg‹, ›Licht‹ für ›positiv‹ sind nahezu interkulturell geläufig.

In der Kette wäre h ein Ton rechts vom Ton f. Interpretiert man die Kette als Turm, wäre h gegenüber f ein hoher, heller Ton und H-Dur gegenüber F-dur daher eine hohe bzw. helle Tonart. Durch die positiven/negativen Bedeutungsfelder ist es möglich, bestimmte Harmoniefolgen mit einer außermusikalischen Bedeutung zu belegen bzw. in Bezug auf die erwähnten Bedeutungsfelder zu bewerten. Im Folgenden wird dieser Sachverhalt an ein paar Beispielen veranschaulicht.

Beispiele für Interpretationen

Heinrich Schütz, Motette "So fahr ich hin" SWV 379

In der Motette "So fahr ich hin" aus der Geistlichen Chormusik von Heinrich Schütz erklingt zum Text "So schlaf ich ein und ruhe fein" eine musikalisch berührende Stelle. Diese ist insbesondere auffällig, weil bis zu diesem Zeitpunkt in der Motette keine chromatischen Klangverbindungen zu hören waren und weil der Puls der Musik sich an dieser Stelle beruhigt (erkennbar an der ›weißen Notation‹, während die Umgebung aus überwiegend schwarzen Noten bzw. Vierteln besteht). Beim ersten »So schlaf...« stoßen die Klänge C-Dur / A-Dur, beim zweiten G-Dur / E-Dur aufeinander (beim Berühren der Abbildung werden diese Stellen im Notentext farbig markiert):

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Source: Youtube

Natürlich könnte man es als problematisch ansehen, dass Klänge in einer um 1650 entstandenen Musik als Akkorde im modernen Sinne interpretiert werden. Setzt man sich über diese Bedenken hinweg, lässt sich das Verhältnis der chromatischen Akkordverbindungen über den Quintenturm veranschaulichen:

Zweimal erklingt in der Motette "So fahr ich hin" eine harmonische Rückung um drei Etagen aufwärts im Quintenturm. Hinzu kommt, dass beim zweiten Mal auch die Stimmen um eine Quinte aufwärts sequenziert werden, also die Musik höher klingt. Nach Schneider wirkt diese Bewegung auf uns »positiv«, »aufsteigend«, freundlich und ›heller werdend‹, was sich im Hinblick auf den Text über die Todesvorstellung eines christlichen Menschen erklären lässt. Die Musik würde dabei die Erlösung durch Gott vom menschlichen Leiden symbolisieren, wobei selbst die Schmerzen des Todes in den dissonanten Klängen g-b-d-e und d-f-a-h (auf dem Wort »ruhe«) symbolisch repräsentiert werden würden. Kontrapunktisch-musikalisch lassen sich die dissonanten Klänge über die Stimmführung der cadentia duriuscula verstehen.

Franz Schubert, Sonate für Klavier in B-Dur D 960

Im Kopfsatz der Sonate in B-Dur D 960 von Franz Schubert erklingt eine überraschende Modulation:

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L'Art De Clara Haskil. Mozart-Beethoven-Schubert-Schumann-Chopin-Scarlatti-Ravel-De Falla, Philips 420525-1, (P) 1951 (Public Domain)

Der Hauptsatz bzw. das 1. Thema hat eine dreiteilige Form (A-B-A), in den Noten zu sehen ist der Übergang vom ersten Abschnitt (A), der in der Grundtonart B-Dur endet, zum zweiten Abschnitt (B), der in Ges-Dur beginnt. Das Verhältnis dieser beiden Tonarten lässt sich wieder über den Quintenturm veranschaulichen:

Harmonisch wird eine Distanz von vier Quinten abwärts überwunden, außerdem hat man durch den sich nach unten auflösenden Triller sowie das unter dem b liegenden ges (im Bass) ein Gefühl, dass die Musik an dieser Stelle nach unten ›wegrutschen‹ würde. Nach Schneider könnte man beim Übergang von B-Dur nach Ges-Dur an »fallen«, »unten« und »dunkel« denken und damit hätte diese chromatische Akkordverbindung eine ganz andere Bedeutung als die Übergänge von C-Dur nach A-Dur oder von G-Dur nach E-Dur in der Musik von Schütz. Bernhard S. van der Linde hat Übergänge wie zwischen B-Dur und Ges-Dur (also in chromatischer Großterzverwandschaft) bereits im Werk von Beethoven untersucht und dafür den Begriff »Versunkenheitsepisode« vorgeschlagen.

Eine Unterrichtseinheit in Form von Videos für die allgemeinbildenden Schulen finden sich in dem Beitrag: Kann man mit dem Quintenzirkel Mozart verstehen?

Literatur

  • Bernhard S. van der Linde, »Die Versunkenheitsepisode bei Beethoven«, in: Beethoven-Jahrbuch 1973–1977, Bonn 1977.
  • Norbert J. Schneider, »Zeichenprozesse im Quintenzirkelsystem. Ein programmatischer Entwurf zur Semiotik der harmonisch-tonalen Musik«, in: Archiv für Musikwissenschaft 36 (1979), S. 122–145.