Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Im ersten größeren Formteil einer Komposition (also z.B. in einem Menuett bis zum Doppelstrich, einer Sonate oder Sinfonie bis zum Ende der Exposition, im A-Teil einer Arie usw.) sollten nach Heinrich Christoph Koch drei Absätze und eine Kadenz stattfinden. Für einen pragmatischen Analyseansatz werden auch unter Absätzen Kadenzen verstanden, sodass die nachstehende Kadenzreihenfolge (Kadenz = K) den ersten größeren Formteil einer umfangreicheren Komposition charakterisiert:
- Ganzschluss in der Haupttonart (= K1)
- Halbschluss in der Haupttonart (= K2)
- Halbschluss in der Nebentonart (= K3)
- Ganzschluss in der Nebentonart (= K4)
Die folgende Anleitung behandelt den Fall, dass im ersten Formteil einer umfangreicheren Komposition der Halbschluss der Nebentonart (= K3) fehlt.
Expositionen mit einer nicht-modulierenden Überleitung
Die Kadenzfolge K1-K2-K4 ist in der Literatur ausgesprochen häufig anzutreffen. Das Kürzel K1-K2-K4 steht für einen Ganzschluss sowie einen Halbschluss (diskantisierend oder tenorisierend) in der Haupttonart und einen Ganzschluss in der Nebentonart. In einem Notendiagramm lässt sich das Kadenzmodell für die Tonart C-Dur wie folgt chiffrieren:
Kadenzfolge mit diskantisierendem Halbschluss in der Haupttonart
Kadenzfolge mit tenorisierendem Halbschluss in der Haupttonart (beim Ziehen des Sliders sichtbar)
In vielen Fällen lassen sich die Formfunktionen der Formenlehre Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe den Abschnitten, die durch Kadenzen entstehen, wie folgt zuweisen:
W. A. Mozart, Sonate in D-Dur KV 311, 1. Satz, Exposition
Klavier: Mitsuko Uchida, Quelle: YouTube
Aufgabe 1:
- Bestimmen Sie die Kadenzen in der Exposition der Sonate für Klavier in D-Dur KV 311 von W. A. Mozart.
- Beziehen Sie Ihr Analyseergebnis auf das eingangs gegebene Kadenzmodell (K1-K3-K4).
- Überlegen Sie, welchen der durch die Kadenzen entstehenden Abschnitte sich die Funktionsbegriffe Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe gut zuweisen lassen und an welchen Stellen Probleme auftreten.
- In der Exposition der Sonate KV 311 gibt es hinsichtlich des Ganzschlusses in der Nebentonart eine Besonderheit. Können Sie darlegen, worin diese Besonderheit besteht?
W. A. Mozart, Sonate in B-Dur KV 281, 1. Satz, Exposition
Klavier: Maria João Pires, Quelle: YouTube
Aufgabe 2:
- Bestimmen Sie die Kadenzen in der Exposition der Sonate für Klavier in B-Dur KV 281 von W. A. Mozart.
- Beziehen Sie Ihr Analyseergebnis auf das eingangs gegebene Kadenzmodell (K1-K2-K4).
- Überlegen Sie, welchen der durch die Kadenzen entstehenden Abschnitte sich die Funktionsbegriffe Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe gut zuweisen lassen und an welchen Stellen Probleme auftreten.
J. Haydn, Sonate in G-Dur XVI:27, 1. Satz, Exposition
Klavier: Jean-Efflam Bavouzet, Quelle: YouTube
Aufgabe 3:
- Bestimmen Sie die Kadenzen in der Exposition der Sonate für Klavier in G-Dur Hob.XVI:27 von J. Haydn.
- Beziehen Sie Ihr Analyseergebnis auf das eingangs gegebene Kadenzmodell (K1-K2-K4).
- Überlegen Sie, welchen der durch die Kadenzen entstehenden Abschnitte sich die Funktionsbegriffe Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe gut zuweisen lassen und an welchen Stellen Probleme auftreten.
W. A. Mozart, Marsch in D-Dur KV 62
The Academy of St Martin in the Fields, Ltg.: Sir Neville Marriner, Quelle: YouTube
Zusammenfassung
Kompositionen, die durch drei Kadenzformen nach H. Chr. Koch charakterisiert sind, haben drei, bei Kadenzwiederholungen oder einer Taktgruppe nach dem Ende der Schlussgruppe vier oder mehr Abschnitte:
- Gestaltung vor einer K1,
- Gestaltung vor einer K2,
- Gestaltung vor einer K4 und ggf. noch eine
- Gestaltung nach einer K4.
In Sonaten und Sinfonien ist aufgrund der Anzahl der Abschnitte die Zuweisung der vier Formfunktionen Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe gut möglich. Ein Problem kann sich bei der Bestimmung der Länge des Seitensatzes bzw. dem Beginn der Schlussgruppe ergeben. Die folgenden Punkte können bei der Orientierung helfen:
- Die Gestaltung vor der K1 lässt sich als Hauptsatz bezeichnen.
- Nach der K1 erklingt eine nicht-modulierende Überleitung, die mit einem Halbschluss in der Haupttonart endet (K2). In ausgedehnteren Sonatenkompositionen wird diese formale Position häufig im »rauschenden« Charakter inszeniert und ist durch Sechzehntelbewegungen, Streichertremolos, einen vollen Bläsersatz und laute Dynamik (f) charakterisiert.
- Der Seitensatz (cantable Satz) beginnt nach dem Halbschluss der Nebentonart.
- Die Schlussgruppe beginnt mit einem auffälligen Satzbildwechsel (oder nach einer Kadenz), hat nicht selten wieder einen »rauschenden« Charakter und enthält in der Regel mehrere Ganzschlüsse in der Nebentonart (K4 mit Arientriller-Kadenz).
Die Bestimmung des Schlussgruppenbeginns in Sonaten des Typs K1-K2-K4, die keinen Seitensatz mit einer achttaktigen Gestaltung als Periode aufweisen (wie im Falle der Sonate in D-Dur KV 311 oder seltener als achttagiger Satz), ist derzeit in der Forschung umstritten. Eine Interpretation und Begriffszuweisung bedarf daher in jedem Fall einer Offenlegung der Analysekriterien bzw. einer an der konkreten Komposition orientierten Begründung!