Kanon-Modelle
Es gibt satztechnische Strukturen in der Musik, die sich herausragend für das Komponieren von Kanons mit mehr als zwei Stimmen eignen. Obwohl diese Strukturen sehr einfach sind, haben viele Komponisten sie verwendet, um mehrstimmige polyphone Musik bzw. Abschnitte zu komponieren. Zwei dieser Kanons bestehen aus einer Stimme, in der einem Terzschritt ein Sekundschritt in Gegenbewegung folgt, eine weitere Struktur aus einer Terzkette ab- oder aufwärts.
Das Terz-Sekund-Modell abwärts
In der folgenden Abbildung ist eine Stimme zusehen, in der das Terz-Sekund-Modell abwärts führt:
Für den Einsatz einer zweiten Stimme im Abstand einer Note bietet sich die Unterquinte an, so dass ein Unterquintkanon entsteht:
Dieser zweistimmige Kanon lässt sich zur Vierstimmigkeit erweitern. Die dritte Stimme bildet dabei Unterterzen zur ersten, die vierte Stimme Unterterzen zur zweiten Stimme. Durch Ziehen des Sliders können Sie die in Terzen geführten Stimmen an der gleichen Farbe (rot/grün) erkennen:
Harmonisch lässt sich das Modell als Quintfallsequenz (bzw. als sekundweise fallender Quintfall) interpretieren:
Das folgende Beispiel zeigt eine Fuge im Rahmen des Schlusssatzes der Sinfonie Nr. 3 in G-Dur Hob. I:3 von Joseph Haydn. Der Satz beginnt mit einer Exposition, in der das Thema fünf Mal erklingt (der letzte Einsatz im Sopran ist aus Platzgründen unten nicht wiedergegeben). In der zweiten Violine erklingt zudem ein Kontrapunkt, der beibehalten wird und über wie unter dem Thema erklingt (= doppelter Kontrapunkt der Oktave). Vergleicht man das Thema mit dem Modellsatz oben, beginnt es an der Struktur gemessen mit der zweiten Note bzw. dem Sekundschritt aufwärts (melodisch ist es in den letzten vier Takten des Beispiels transponiert in der Oberstimme zu sehen).
Josef Haydn, Sinfonie in G-Dur Hob. I:3, Orchester
The Academy of Ancient Music, Leitung: Christopher Hogwood, Quelle: YouTube
Indem Haydn als Thema für diesen Fugensatz die modellhafte Struktur wählt, ermöglicht es ihm eine Engführung. Diese erklingt in den Takten 89 ff., durch Ziehen des Sliders werden die am Kanon beteiligten Stimmen farblich markiert:
Josef Haydn, Sinfonie in G-Dur Hob. I:3, Orchester
The Academy of Ancient Music, Leitung: Christopher Hogwood, Quelle: YouTube.
Den Einsätzen in den Violinen folgen Einsätze in den Bratschen und Celli. Für den Einsatz dieser Stimmen wählt Haydn allerdings einen Einsatzabstand von zwei Takten. Führt man die Strukturen der Themeneinsätze weiter, fällt auf, dass die Einsätze drei und vier wie im Modell gezeigt in Terzparallelen zu den Einsätzen eins und zwei verlaufen (beim Berühren der Abbildung sind die zusammengehörigen Stellen mit gleicher Farbe markiert).
Das Terz-Sekund-Modell aufwärts
In der folgenden Abbildung ist eine Stimme zu sehen, in der das Terz-Sekund-Modell aufwärts führt:
Für den Einsatz einer zweiten Stimme im Abstand einer Note bietet sich die Unterquarte an, so dass ein Unterquartkanon entsteht:
Dieser zweistimmige Kanon lässt sich zur Vierstimmigkeit erweitern. Die dritte Stimme bildet dabei wieder Unterterzen zur ersten, die vierte Stimme Unterterzen zur zweiten Stimme (jeweils gleiche Farbe rot/Grün).
Harmonisch gesehen entsteht durch diese Kanonstruktur eine Quintanstiegssequenz:
Das folgende Beispiel zeigt einen vierstimmigen Kanon mit der im Vorangegangenen erläuterten Struktur im zweiten Satz der Motette »Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen« Op. 74, Nr. 1 von Johannes Brahms. Brahms ›versteckt‹ die Kanonstruktur durch ein Motiv, das auf den Einsatztönen f, c, b und f beginnt. Mit den Tonwiederholungen nach dem achten Ton der jeweiligen Kanonstimme verlässt Brahms das Schema, durch Ziehen des Sliders werden die an der Kanonstruktur beteiligten Stimmen farblich hervorgehoben:
Johannes Brahms, Motette op. 74, Nr. 1, Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen
RIAS Kammerchor, Ltg.: Marcus Creed, Quelle: YouTube
Diese Struktur lässt sowohl einen Unterquintkanon zu...
...als auch einen Einklangskanon:
Brahms gestaltet den Hauptsatz des Kopfsatzes seiner vierten Sinfonie in e-Moll Op. 98 mithilfe dieser Struktur, indem er zwei Terzfälle melodisch zu Sextintervallen umwandelt:
Im Folgenden ist der Anfang der Sinfonie zu sehen. Durch Ziehen des Sliders werden die thematische Struktur sowie Unterquint- und Einklangskanon zum Beginn der Überleitung durch Einfärbung (rot) sichtbar:
Johannes Brahms, Sinfonie Nr. 4 in e-Moll Op. 98
Philharmonia Orchestra, Ltg.: Herbert v. Karajan, erstmalige Aufnahme: 1955, Lizenz: CC0
Der Notentext oben zeigt auch (beim Berühren der Abbildung = grün), dass Brahms die Struktur der Terzenkette aufwärts einsetzt, die sich als Spiegelung verstehen und sich in vergleichbarer Weise zur Kanonbildung einsetzen lässt:
In zeitlicher Nähe zur Ausarbeitung seiner ›Missa canonica‹ WoO 18 (1857) arbeitete Brahms im Selbststudium an der Verbesserung seiner technischen Fähigkeiten. Ein Jahr zuvor, im Juni 1856, kopierte er sich die Noten der ›Missa Pape Marcelli‹ von G. P. da Palestrina für seine Studien. Dem Beginn des Kyries konnte Brahms jene Technik entnehmen, die er in seiner ›Missa canonica‹ ausgiebig einsetzte und seither in vielen Kompositionen verwendete. Auch hier können Sie durch Ziehen des Sliders die Kanonstrukturen durch Einfärbung (rot) sichtbar machen:
Giovanni Pierluigi da Palestrina, Kyrie aus der Missa Papae Marcelli
Oxford Camerata, Oxford Schola Cantorum, Ltg.: Jeremy Summerly, Quelle: YouTube
Johannes Brahms, Fest-und Gedenksprüche op. 109 – II. Wenn ein starker Gewappneter
Cappella Amsterdam, Ltg.: Daniel Reuss, Quelle: YouTube
An dieser Stelle verwendet Brahms die Imitationen (bzw. die Kanonstruktur) zur Symbolisierung der Textworte »und ein Haus fället über das andere« (die Kanonstruktur ist beim Berühren der Abbildung oben rot gekennzeichnet).
Die folgende Notenabbildung veranschaulicht die Struktur des Kanons (links) sowie das Modell in einer gebräuchlichen dreistimmigen Ausführung (rechts):
Am Ende des vierstimmigen Magnificats SWV 426 von Heinrich Schütz findet sich eine kanonische Amen-Gestaltung, die melodisch dem Terzfall-Terzfall-Quartstieg-Modell zu entsprechen scheint. Bei genauerer Analyse der rhythmischen Gestaltung zeigt sich jedoch, dass sich die Polyphonie des Amen-Abschnitts angemessener durch das Terzfall-Sekundstieg-Modell verstehen lässt (beim Ziehen des Sliders werden die Gerüsttöne dieses Modells grün markiert):
Heinrich Schütz, 12 Geistliche Gesänge, Op. 13 – VII. Meine Seele erhebt den Herren, SWV 426
Dresdner Barockorchester, Dresdner Kammerchor, Ltg.: Hans-Christoph Rademann, Quelle: YouTube
Materialien
Die folgenden Notationsdateien lassen sich mit der OpenSource-Software Musescore öffnen.
- Notationsdatei Quintfall
- Notationsdatei Quintanstieg
- Notationsdatei Terzen
- Notationsdatei Terzfälle mit Quartsprung
- Notationsdatei J. Haydn, Sinfonie in G
- Notationsdatei H. Schütz, Meine Seele...