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Vagierende und symmetrische Akkorde

Inhalt

Zum Begriff

Der Begriff ›vagierende Akkorde‹ stammt von Arnold Schönberg. Der Komponist schrieb in seiner Harmonielehre im Kapitel »An den Grenzen der Tonart«:

Die Einführung der im Vorhergehenden besprochenen Akkorde geschieht viel sanfter, vermittelter, wenn man sich vagierender Akkorde bedient. Solcher kennen wir vorläufig zwei: den verminderten 7-Akkord und den übermäßigen Dreiklang.
(Schönberg 1922, S. 287)

Diese beiden Akkorde − also der übermäßige Dreiklang und der verminderte Septakkord − haben nach Schönberg etwas »in sich Zurückkehrendes« (S. 291). Das Adjektiv ›vagierend‹ im Namen heißt (laut Duden) soviel wie »beschäftigungslos umherziehen«, »sich unstet, unruhig bewegen« usw. Schönberg wollte damit ausdrücken, dass sich diese Akkorde durch ihre mannigfaltigen Notations- und Auflösungsmöglichkeiten zwischen den Tonarten bewegen bzw. herumtreiben:

Und es wird sich später noch zeigen, daß die Beziehungen, die dieser Akkord [der verminderte Septakkord] zu den Tonarten hat, noch viel reicher sind. Daß er in keiner eigentlich allein, zu Hause, allein zuständig ist. Sondern daß er sozusagen überall heimatsberechtigt und doch nirgends seßhaft ist, ein Kosmopolit oder ein Landstreicher! Ich nenne derartige Akkorde vagierende Akkorde [...]
(Schönberg 1922, S. 238)

Der übermäßige Dreiklang

Der übermäßige Dreiklang besteht aus zwei großen Terzen (z.B. c-e-gis) und gehört damit nicht nur zu den vagierenden, sondern auch zu den symmetrischen Akkorden, was sich mithilfe des Quintenzirkels veranschaulichen lässt:

Je nach Notation ergeben sich für diesen Akkord verschiedene Auflösungen (z.B. mit gis nach a-Moll oder mit as nach C-Dur). In Tasten gedacht sind dabei nur vier verschiedene übermäßige Dreiklänge möglich (auf c, des, d und es), der übermäßige Dreiklang auf e wird mit den gleichen Tasten gespielt wie der auf c:

In der Theorie wird die Verwendung des übermäßigen Dreiklangs als Quinta superflua bereits im 17. Jahrhundert bei Georg Muffat beschrieben:

Die Quinta superflua oder große, ia übermaige falsche Quint, ist selten bey der Partitur zu finden, doch, wo solche kommen solte, ist zu mercken, daß die große falsche Quint kann so wohl gebundener gehalten [...] als gradatim [...] oder auch per saltum, das ist mit einem Sprung, frey genomen werden [...] da nemblich der vorige Grieff nit zulasset, daß man sie vorbereiten und binden möge.
(Muffat 1699, S. 34 [30])

Und auch in der kompositorischen Praxis des 17. Jahrhunderts waren Klänge, die man aus heutiger Sicht als übermäßige Dreiklänge bezeichnen würde, im Kontext von Kadenzen sehr beliebt. Robert Ramsey komponiert diese Klänge in einer auch für die damalige Zeit außergewöhnlichen Weise (die Klänge werden beim Ziehen des Sliders gelb markiert):

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Robert Ramsey, Sleep fleshly birth, Cambridge Singers, Leitung: John Rutter, Quelle: YouTube

Der verminderte Septakkord

Der verminderten Septklang besteht ebenfalls aus drei kleinen Terzen (z.B. gis-h-d-f). Auch dieser Klang wurde von Georg Muffat bereits im 16. Jahrundert als Akkord gelehrt:

Gegen den Baß aber geschieht etwas chromatisches, wann an stat der guten die kleine falsche Quint genomen wird [...] Ist aber die Sept nit just, sondern die kleine falsche Sept, so mit der Terz allein genomen wird, so ist solche Septima gegen den Baß chromatisch [...] Kombt aber noch zu solcher kleinen falschen Sept die falsche Quint, so ist das chromatisch Wesen gegen den Baß verdoppelt [...]
(Muffat 1699, S. 45)

Der verminderte Septklang gehört wie der übermäßige Dreiklang zu den symmetrischen Akkorden, was eine Darstellung im Quintenzirkel veranschaulicht:

Wiederum in Tasten gedacht kann es daher nur drei verschiedene verminderte Septakkorde geben: über h, his (bzw. c) und cis. Der verminderte Septklang über d verwendet dieselben Tasten wie der verminderte Septklang auf h. Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie im Tutorial Der verminderte Septklang bzw. Septakkord.

Der übermäßige Quintsextakkord

Schönberg zählte in seiner Harmonielehre noch ein paar weitere Akkorde zu den Vagierenden, zum Beispiel auch den übermäßigen Quintsextakkord (z.B. c-e-g-ais). Dieser Klang hat jedoch keine symmetrische Akkordstruktur:

Detaiilierte Informationen zu diesem wichtigen Thema erhalten Sie in dem Tutorial Der übermäßige Quintsextakkord.

Der übermäßige Terzquartakkord

Im Gegensatz zum übermäßigen Quintsextakkord gehört der übermäßige Terzquartakkord (z.B. c-e-fis-ais) sowohl zu den vagierenden als auch den symmetrischen Akkorden:

Er lässt sich als Variante des übermäßigen Quintsextakkordes bzw. als ein Signalakkord verstehen.

Der Dominantseptakkord mit erhöhter Quinte

Der Dominantseptakkord mit erhöhter Quinte (z.B. c-e-gis-ais) zählt ebenfalls zu den vagierenden und symmetrischen Akkorden:

Im Chorlied »Im Herbst« Op. 104, Nr. 5 von Johannes Brahms ist diese Form der Dominante zu hören:

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J. Brahms, Op. 104, Nr. 5, »Im Herbst«
Chor: Ensemberlino Vocale, Ltg.: Ulrich Kaiser | Lizenz: CC BY-NC-SA

Den Dominantseptakkord mit übermäßiger Quinte gibt es in verschiedenen Akkordgestalten, wobei die oben gezeigte am häufigsten anzutreffen sein dürfte. In dem Chorlied »Wenn ich ein Vöglein wär« von Max Reger verleiht in der Vertonung der ersten Strophe eine Umkehrung des Akkordes (mit der Terz im Bass) einer Wendung in die Subdominante Nachdruck.

Kritik

Dass die vagierenden Akkorde »überall heimatsberechtigt und doch nirgends seßhaft« sind, ist eine Behauptung Schönbergs, die immer wieder gerne zitiert wird. Theoriegeschichtlich hat dieses Diktum auch Spuren in vor allem älteren Harmonielehren hinterlassen, in denen das Modulieren gerne mit verminderten Septklängen, übermäßigen Quintsextakkorden und anderen chromatischen Akkorden trainiert worden ist. Kompositionsgeschichtlich ergibt sich allerdings ein ganz anderes Bild, da die sogenannten vagierenden Akkorde meist wie Signalakkorde verwendet werden, die nach einer instabilen tonalen Phase bzw. nach einer Modulation ein Signal für eine folgende, formal wichtige und tonal stabile Kadenz setzen. In diesem Sinne sind die vagierenden Akkorde das ganze Gegenteil zum Vagabunden, denn sie funktionieren wie ein Wegweiser zum Verständnis wichtiger tonaler Regionen (wie zum Beispiel der Tonart der V. Stufe). Weitere Informationen hierzu erhalten Sie in dem Tutorial Signalakkorde der Kadenz.

Literatur

  • Georg Muffat, Regulae Concentuum Partiturae, 1699, zit. nach: Regulae Concentuum Partiturae Authore Georgio Muffat. Anno I699. hrsg. von Bernhard Lang, Version 1.01, 26. November 2004
  • Hermann Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig 1927, 2. Aufl. 1969.
  • Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien 1911, 3. verm. u. verb. Aufl. 1922.