Einführung in die Formanalyse am Beispiel Sonate (1)

1. Einführung

Dieses Tutorial soll Hilfen geben, wie Sie sich der Formanalyse einer Komposition (in diesem Beispiel einer Sonate) annähern können. Grundlage der Analyse von Musik ist die Wahrnehmung eines Stücks. Und hiermit wäre schon eines der größten Problem musikalischer Analyse angesprochen: Da verschiedene Menschen das gleiche Musikstück sehr unterschiedlich wahrnehmen können, ist es einleuchtend, dass es unterschiedliche Analysen geben muss. Im Folgenden soll veranschaulicht werden, dass es dabei nicht um richtig und falsch, sondern um Angemessenheit geht und dass auch unterschiedliche Analysen der untersuchten Musik gleichermaßen angemessen sein können.

2. Haydns Divertimento in C-Dur Hob. XVI:1 (Kopfsatz)

Gegenstand der Analyse ist die Exposition (1. Hauptabschnitt) des Kopfsatzes der kleinen Klaviersonate in C-Dur Hob. XVI:1 von Joseph Haydn. Die Echtheit dieser Sonate wird von Spezialisten angezweifelt, die Entstehungszeit des Stücks zwischen 1750 und 1755 vermutet. Die Sonate dürfte jedenfalls in der Mitte des 18. Jahrhunderts komponiert worden sein (also in einer Zeit der Vorahnung des Umbruchs zwischen Aristokratie und Aufklärung). In dieser Zeit starb Johann Sebastian Bach (1750), Georg Friedrich Händel vollendete seine Alceste und Wolfgang Amadé Mozart machte seine ersten Kompositionsversuche an Menuetten (1761). Der erste Satz dieser Sonate ist gattungstypisch ein schneller Satz (Allegro), dessen erster Abschnitt (bis zum ersten Doppelstrich) als Exposition bezeichnet wird. Das folgende Notenbeispiel zeigt die Exposition des Kopfsatzes der Sonate in C-Dur Hob. XVI:1:

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3. Gliederungen

Sucht man nach sinnvollen Möglichkeiten, die Exposition in Abschnitte zu gliedern, fällt eine Zweiteilung auf: T. 1−7 (= gelb) und T. 8−17 (= grün). Für diese Gliederung spricht, dass beide Teile jeweils mit einer Generalpause und einer typischen Schlussformulierung enden (T. 7 und T. 17). Darüber hinaus sind die Teile mit sieben und zehn Takten ungefähr gleich gewichtig.

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406.

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406.

Eine andere Möglichkeit bestände darin, die beiden Teile noch einmal zu unterteilen, denn in beiden Teilen ändert sich an einer Stelle das Satzbild in auffälliger Weise (im ersten Teil von T. 5 zu T. 6, im zweiten von T. 11 zu T. 12). Merkmale hierfür wären das Aussetzen der Albertibass-Figur und die erste lange Note (Halbe) in der linken Hand sowie die erstmalige Sechzehntelbewegung in der rechten Hand.

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406

Zum Satzbild könnte kritisch angemerkt werden, dass es nur drei exakte Wiederholungen von Takten (T. 1/3 oder T 4/5) bzw. Taktgruppen (T. 8−9/10−11) gäbe. Das würde, nähme man nur die Änderungen des Satzbildes als Kriterium, wiederum zu einer Gliederung führen, in der die Musik in einzelne Takte − oftmals sogar in noch kleinere Einheiten − zerfallen würde. Dieser Einwand ist berechtigt, dürfte aber aufgrund des Aufführungstempos in den seltensten Fällen unserer Wahrnehmung entsprechen. Sie erinnern sich: Grundlage einer Analyse von Musik ist die Wahrnehmung. Und es darf bezweifelt werden, dass jemand eine Allegro-Musik in einzelnen Takten und noch kleineren Einheiten wahrnehmen kann.

Betrachten wir den ersten Teil näher: Die Harmonik des ersten Abschnitts zeigt eine I-IV-I-V-I-Harmoniefolge, wobei die Akkorde in der linken Hand durch Albertibässe diminuiert werden, die rechte Hand hingegen spielt Dreiklangsbrechungen auf Viertelebene. Wichtig ist, dass in diesem Abschnitt keine typische Bassstimme zu hören ist. Aus diesem Grunde erleben wir diese Taktgruppe auch nicht als Kadenz, sondern als eine um Liegetöne pendelnde Harmonik (Pendelharmonik). Die folgende Abbildung veranschaulicht den Unterschied zwischen Pendelharmonik und Kadenz. Beide Beispiele sind harmonisch gleich, doch im ersten verhindert das Fehlen einer Bassstimme die Kadenzwirkung, im zweiten entsteht diese durch einen gewichtigen Bass sowie eine in den Grundton führende Oberstimme:

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Nach dem geringfügigen Wechsel des Satzbildes von T. 3 zu T. 4 erfährt die Musik eine geringfügige Beschleunigung, denn die Harmonien wechseln ab hier halbtaktig und auch der Praller erklingt nicht im Abstand eines Taktes, sondern zweimal pro Takt. Diese Wirkung hält im Takt 5 an, der Wiederholung des 4. Taktes darstellt, bevor die Beschleunigung im nächsten Abschnitt gebremst wird (was die Verlangsamung des harmonischen Rhythmus und das Ausbleiben der Praller bewirken). Der zweite Abschnitt des ersten Teils besteht gegenüber der Pendelharmonik aus einem für Halbschlüsse typischen Gerüstsatz:

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Als Zusammenfassung zum ersten Teil lässt sich sagen, dass er aus einer einleitenden Pendelharmonik und einer abschließenden Kadenz (Halbschluss) besteht. Die Dreiklangsbrechungen bilden Motive, wobei die Gleichartigkeit der Motive einen entscheidenden Anteil an der Wahrnehmung der Zusammengehörigkeit von Takten hat.

Auch für den zweiten Teil (T. 8−17) haben diese Beobachtungen in veränderter Form Gültigkeit: Er beginnt mit einem Abschnitt, der durch eine Pendelharmonik charakterisiert ist (I-V-I-V, T. 8−11) und endet mit einem Abschnitt (T. 12−17), der durch seine Kadenzen (T. 14/15 und T. 16/17) einen schließenden Charakter hat.

Darüber hinaus ist es sinnvoll, den letzten kadenziellen Abschnitt (T. 12−17) noch einmal zu unterteilen, da sonst die deutlich wahrnehmbare, durch einen Triller ausgezeichnete Kadenz (T. 14/T. 15) in der Gliederung nicht angemessen berücksichtigt werden würde.

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406

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Joseph Haydn, Sonata Nr. 10 (Divertimento) in C-Dur Hob. XVI:1, 1. Satz, Exposition. Aufnahme: Joseph Haydn 1732–1809, Die Klaviersonaten/Piano Sonatas/Sonates pour Piano, Gesamtaufnahme/Complete Recording, Christine Schornsheim Historische Instrumente/Period Instruments, Capriccio/WDR3 49406

Für diese Gliederung gibt es satztechnisch gute Gründe. Die Takte 12−15 (bis Schlag eins) lassen sich als eine Kadenz auffassen, die häufig über der dritten Tonleiterstufe im Bass beginnt (hier mit dem h der Nebentonart G-Dur, harmonisiert als Zwischendominante zur Subdominante). Anschließend wird über eine Subdominante und Dominante mit Quartsextvorhalt die Tonika wieder erreicht. In vielen Fällen wird dabei die gewichtige Schlusskadenz in der Nebentonart in der Oberstimme mit einem Triller verziert, was dazu geführt hat, dass diese Kadenz in der Forschung auch als ›Arientriller‹-Kadenz bezeichnet wird. Diese Bezeichnung wurde in Anlehnung an groß angelegte Kadenzen in Bravour-Arien in Opernmusik gewählt, in denen sich an vergleichbaren Stellen häufig Verzierungen mit einem ausgedehnten Triller finden. Im Folgenden ist der Gerüstsatz dieser Kadenz zu sehen:

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Die nächste Taktgruppe lässt sich gut als eine doppelte Kadenz verstehen. Die nächste Abbildung zeigt den Bass der Takte 15−17 und darüber das zweimalige Zusammenspiel von Sopran- und Tenorklausel (vgl. hierzu das Tutorial zur Kadenz). Der Trugschluss verbindet die beiden Kadenzen, so dass die Wirkung der Schlusstonika nicht schon in der Mitte des Modells erreicht wird. Der Trugschluss ist in Sonaten und Sinfonien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an dieser Stelle allerdings so standardmäßig verwendet worden, dass es semantisch eigentlich unpassend ist, von einem Trugschluss zu sprechen. Denn niemand, der die Musik dieser Zeit kennt, wird an dieser Stelle um eine Erwartung betrogen. Im Gegenteil wäre man verwundert, wenn hier der Trugschluss fehlen würde. Der Begriff Trugschluss ist hier daher lediglich als Bezeichner für einen satztechnischen Sachverhalt zu verstehen.

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Zusammenfassend lässt sich feststellen:

Die Exposition der Sonate in C-Dur Hob. XVI:1 besteht aus zwei Teilen, die durch eine deutliche Mittelzäsur getrennt werden. Der Halbschluss vor der Mittelzäsur erklingt in der Ausgangstonart, der Ganzschluss am Ende der Exposition in der Nebentonart (in Sonaten in Dur üblicherweise die V. Stufe der Ausgangstonart). Eine Systematisierung der Kadenzen in Expositionen hat Heinrich Christoph Koch, ein Zeitgenosse von W. A. Mozart und J. Haydn, vorgeschlagen (vgl. hierzu das Tutorial Kadenzgliederung nach Heinrich Christoph Koch als Methode der Formanalyse).
Jeder Teil besteht aus zwei Abschnitten, die sich über die Änderung des Satzbildes identifizieren lassen. Der jeweils erste Abschnitt dieser Teile lässt sich als Pendelharmonik verstehen (I-IV-I-V-I in T. 1−5 und I-V-I-V in T. 8−11), der jeweils zweite als Kadenz-Ausarbeitung (in den Takten 6−7 findet sich eine Halbschluss-, in den Takten 12−17 eine Ganzschlussgestaltung).
Pendelharmonik und Kadenzen haben in Hob. XVI:1 eine spezifische Formfunktion: Die Pendelharmonik erklingt jeweils als Anfang, die Kadenzen jeweils als Ende eines Formteils. Die beiden Formteile in Hob. XVI:1 bestehen daher aus jeweils zwei Formfunktionen (hier: Anfang = Pendelharmonik, Ende = Kadenz). Expositionen von Sonaten werden oftmals über vier Formfunktionen beschrieben:

  1. Hauptsatz
  2. Überleitung
  3. Seitensatz
  4. Schlussgruppe

oder über die fünf Formfunktionen

  1. Hauptsatz
  2. Überleitung
  3. Seitensatz
  4. Schlussgruppe
  5. Epilog

Die Zuweisung der vier oder fünf Abschnitte der Exposition der Sonate Hob. XVI:1 zu den genannten vier oder fünf Formfunktionen ist naheliegend (jeder Abschnitt mit einer anderen Farbe repräsentiert eine andere Formfunktion). Allerdings bestünden in diesem Fall Haupt- und Seitensatz nur aus einer einfachen Pendelharmonik, die Überleitung nur aus einer Halbschlusskadenz und die Schlussgruppe (sowie der Epilog) nur aus einer Ganzschlusskadenz.
Hauptsatz und Seitensatz als Thema zu bezeichnen, erscheint in Hob. XVI:1 dagegen als unangemessen, da der Themenbegriff in der Formenlehre häufig an die Modelle Periode und Satz gekoppelt wird. Eine syntaktisch fest gefügte Periode oder ein fest gefügter Satz lassen sich in der Exposition der Sonate Hob. XVI:1 nicht entdecken.

Eine Fortsetzung der Anleitung finden Sie hier: Einführung in die Formanalyse am Beispiel Sonate (2).