Anmerkungen zum Aufbau einer schriftlichen Analyse

dargestellt am Beispiel ›Alte Musik‹ (Musik des 16. und 17. Jahrhunderts)

Am Beginn einer schriftlichen Analyse sollte eine Kontextualisierung stehen. Für die Kontextualisierung einer musikalischen Analyse sind dabei grundsätzlich zwei verschiedene Möglichkeiten (oder eine Mischung aus beiden) denkbar:

a) Eine historische oder
b) eine systematische Kontextualisierung.

Vom Gesamteindruck ins Detail

In der Regel empfiehlt sich in einer schriftlichen Analyse eine Vorgehensweise vom Großen zum Kleinen (und auch vom Leichten zum Schweren). In Bezug auf das Thema alte Musik zählen zum Großen Anmerkungen zum Text und zur Textaussage, zum Klang- und Gesamteindruck, ein formaler Überblick (einteilig oder zweiteilig, z.B. prima/secunda pars) oder der Versuch einer Modusbestimmung. Diese Bereiche können in der Regeln einen guten Einstieg in die Analyse bieten.
Der nächste Schritt könnte in einer detaillierteren formalen Gliederung bestehen. In Musik des 15. und 16. Jahrhundert spielen dabei Kadenzen und deren Gewichtung eine bedeutende Rolle. Höchstes Gewicht hat die Cadenza doppia, gefolgt von einfachen Kadenzen mit Synkope und Bassklausel im Bass, danach Kadenzen mit Tenor- oder Sopranklausel im Bass und/oder ohne Synkopendissonanz sowie die clausula dissecta (Halbschluss).
Hilfreich und anschaulich ist die Erstellung eines Formplans unter Berücksichtigung der Kadenzorte (d.h., auf welche Töne der Skala über der Finalis wird in mit welchen Kadenzformen geschlossen). Die Formplan ist einerseits Teil der Formanalyse, andererseits lassen sich deren Ergebnisse auf die Modusbestimmung beziehen. Auf Grundlage einer Modustheorie könnten ggf. bestimmte Kadenzorte (peregrinae) als Mittel der Textausdeutung interpretiert werden. Bitte denken Sie immer daran, Textinterpretationen bedächtig vorzunehmen und gleichzeitig kritisch zu hinterfragen. (Erklingt die angeblich textausdeutende Musik nicht auch nur zufällig an dieser Stelle? Gibt es Stellen mit einer vergleichbaren Musik, die jedoch zu Worten mit gegenläufiger Textbedeutung erklingt?).
Gute Diagramme können meist Sachverhalte viel besser veranschaulichen als umständliche Erklärungen, die im ungünstigsten Fall sogar Auskunft darüber geben, das die Fachterminologie zur Beschreibung musikalischer Sachverhalte nicht richtig beherrscht wird.

Diagramme sollten jedoch immer interpretiert werden. Was kann man beispielsweise aus dem Diagramm oben, das den Kadenzverlauf der Motette »So fahr ich hin« von Heinrich Schütz repräsentiert, musikalisch folgern? Welche Schlüsse lässt die Kadenzdisposition im Hinblick auf die Dramaturgie der Motette, auf die Modusbestimmung und ggf. auch auf die Textausdeutung zu? Diagramme können helfen, Ideen zur Interpretation zu entwickeln und zu veranschaulichen. Diagramme ersetzen allerdings keine Ideen und auch keine Interpretation. Das bloße Beschreiben musikalischer Sachverhalte ohne Interpretation, also dem Bestimmen von Funktionen, die diese Sachverhalte im Kontext zukommt, lässt sich nicht wirklich als Analyse bezeichnen.

Notenabbildungen

Für Notenabbildungen gilt das gleiche wie für ein Formdiagramm. Was schwer zu beschreiben ist, lässt sich oft mit einfachen Notendiagrammen veranschaulichen. In der Motette »So fahr ich hin« von Heinrich Schütz gibt es beispielsweise den folgenden polyphonen Abschnitt:

Die Abbildung zeigt den Gerüstsatz eines Unteroktav- sowie Oberquintkanons, den Schütz zur dreistimmigen Imitation komplettiert. Das Ineinander der beiden Kanonstrukturen ist technisch möglich, weil sowohl die Terzbewegung aufwärts als auch die Quartbewegung abwärts in beiden Kanonstrukturen zu den jeweils satztechnisch ›funktionierenden‹ Intervallen gehören.

Die Imitationsbereiche hätte Schütz technisch gesehen sogar länger ausarbeiten können, als er es in seiner Motette tatsächlich getan hat, was dem Ausstiegspunkten Gewicht verleiht (die Kadenzhäufungen gegen Ende der Motette). Von der Bedeutung her bietet sich nach diesen Überlegungen eine Beziehung zum Text an: Kanon (= Nachfolge), jeweils drei Stimmen (Trinität), Text »mich führen zum ewigen Leben«? Zufall oder kompositorische Absicht?

Bei der Beantwortung dieser Frage hilft ein Blick auf eine andere Stelle, zum Beispiel auf den Abschnitt »So schlaf ich ein und ruhe fein«:

Alle Klänge dieser Stelle lassen sich aus der Cadenza duriuscula nach Chr. Bernhard herleiten (unten). Die Entschleunigung des Pulses (›weiße Notation‹), die chromatisch Übergänge (C-Dur-/A-Dur-Klänge), die Molleintrübung, die gedehnte Dissonanz (g-b-d-e) sowie der aufgehellte Schlussakkord legen die Vermutung nahe, dass Schütz in dieser Motette sehr an einer Textausdeutung gelegen war, die er mit klassischen (Kanon) und manieristischen (Chromatik) Techniken eindrucksvoll in Szene zu setzen wusste.