Begriffe und Methoden der musikalischen Analyse
In diesem Tutorial finden sich Erklärungen zu Begriffen wie Idealtypus, Modell und Topos, die gerne im Rahmen von musikalischen Analyse verwendet werden. Eine Erweiterung der Begriffsliste durch die musikanalytisch interessierte Community ist erwünscht ...
Inhalt
Idealtypus
Der Begriff Idealtypus geht auf den Soziologen Max Weber (1864−1920, Abb. rechts) zurück. Er gilt als ›Klassiker‹ des Fachs Soziologie als einer universitären Disziplin sowie der Kultur- und Sozialwissenschaften. Max Weber hatte es sich zum Ziel gesetzt, soziales Handeln − also ein Handeln, das auf das Verhalten anderer bezogen ist − zu verstehen und ursächlich zu erklären. Zu vielen Themen gibt es von ihm Untersuchungen, z.B. zu Macht und Herrschaft, Wirtschaft und Börse, zu Bordellen und Moral usw. Seinen Untersuchungen hat er dabei Überlegungen bzw. ein »Gedankenbilde« zugrunde gelegt, das er zuvor durch »einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte« gewonnen hatte. Hierzu erläuterte er:
Er [der ›Idealtypus‹, Anm.] wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht [...].
Max Weber, »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904), S. 65.
Den Zweck von Idealtypen im Rahmen einer Forschung mit Wissenschaftsanspruch hat Max Weber dabei klar umrissen:
Denn welchen Inhalt immer der rationale Idealtypus hat: [...] stets hat seine Konstruktion innerhalb empirischer Untersuchungen nur den Zweck: die empirische Wirklichkeit mit ihm zu ›vergleichen‹, ihren Kontrast oder ihren Abstand von ihm oder ihre relative Annäherung an ihn festzustellen, um sie so mit möglichst eindeutig verständlichen Begriffen beschreiben und kausal zurechnend verstehen und erklären zu können.
Max Weber, »Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften», in: Zeitschrift für systematische Philosophie Bd. VII (1917/18), S. 83.
Max Weber ging es als Wissenschaftler um Kausalität im Sozialen, um das Auffinden von Ursachen für bestimmte soziale Handlungen. Um die Ursachen bestimmter Wirkungen besser verstehen zu können konstruierte er seine Idealtypen. Zum Beispiel hat er sich, um die Führung eines Krieges besser verstehen zu können, ideale Feldherren und ihre Absichten vorgestellt, die darin zu suchen seien, die jeweils andere Militärmacht zu ›zertrümmern‹. Wenn man nun das tatsächliche Verhalten dieser Feldherren an ihrer idealen Konstruktion misst, lassen sich Irrtümer isolieren und deren Auswirkungen auf den Verlauf der Schlacht untersuchen. Für seine Untersuchung nahm Max Weber an, dass ein idealer Feldherr irrtumslos und auch logisch ›fehlerfrei‹ handeln würde. In anderen Zusammenhängen wies er allerdings darauf hin, dass es irrig wäre anzunehmen, ein Idealtypus müsse − wie im Falle der Kriegsanalyse − immer an zweckrationalem Handeln ausgerichtet sein. Im Gegenteil sei es denkbar, dass »als Idealtypus gerade ein in charakteristischer Art falsches Schlußverfahren oder ein bestimmtes typisch zweckwidriges Verhalten einen besseren Dienst tun könnte«. Entscheidend sei nicht »die normative ›Richtigkeit‹ dieser Typen«, sondern dass ein Idealtypus eine im Hinblick auf das Untersuchungsziel spezifische Eignung aufweise. Oder einfacher gesagt: Ein Idealtypus muss es ermöglichen, genau das zu messen, worauf es in einer Untersuchung bzw. in einem Forschungsprogramm ankommt.
Modell
Der Begriff Modell lässt sich auf das lateinische modus (Maß, Maßstab, Weise; auch Form oder Vorschrift) zurückführen. Ein Modell kann demnach ein Vorbild (Maßstab, Vorschrift) für einen Gegenstand oder ein Abbild (Weise, Form) eines Gegenstandes sein. Herbert Stachowiak (1921−2004), der eine häufig rezipierte pragmatische Modelltheorie entwickelt hat, benennt Abbildung, Verkürzung und Pragmatik als notwendige Merkmale eines Modells und erläutert:
Modelle sind stets Modelle von etwas, nämlich Abbildungen, Repräsentationen natürlicher oder künstlicher Originale, die selbst wieder Modelle sein können. Der Abbildungsbegriff fällt mit dem Begriff der Zuordnung von Modell-Attributen zu Original-Attributen zusammen. Ihm liegt der mathematische (mengentheoretische, algebraische) Abbildungsbegriff zugrunde. [...]
Modelle erfassen im allgemeinen nicht alle Attribute des durch sie repräsentierten Originals, sondern nur solche, die den jeweiligen Modellerschaffern und/oder Modellbenutzern relevant scheinen. Zu wissen einmal, daß nicht alle Originalattribute von dem zugehörigen Modell erfaßt werden, zum anderen, welche der Originalattribute vom Modell erfaßt werden, setzt die Kenntnis aller Attribute sowohl des Originals als auch des Modells voraus. [...]
Modelle sind ihren Originalen nicht per se eindeutig zugeordnet. Sie erfüllen ihre Ersetzungsfunktion a) für bestimmte — erkennende und/oder handelnde, modellbenutzende — Subjekte, b) innerhalb bestimmter Zeitintervalle und c) unter Einschränkung auf bestimmte gedankliche oder tatsächliche Operationen. [...] Eine pragmatisch vollständige Bestimmung des Modellbegriffs hat nicht nur die Frage zu berücksichtigen, wovon etwas Modell ist, sondern auch, für wen, wann und wozu bezüglich seiner je spezifischen Funktionen es Modell ist.
Herbert Stachowiak, Allgemeine Modelltheorie, Wien 1973, S. 131−133.
Dabei stellt er für den Modellbegriff fest,
daß in der Begriffshierarchie die folgende konverse Relation gilt: je größer und weiter der Umfang des Begriffs, desto kleiner und ärmer sein Inhalt, und umgekehrt. Der zu gewinnende allgemeinste Modellbegriff wird demzufolge der inhaltsärmste sein — unbeschadet der Spezifität seiner Merkmale, die es exakt zu erarbeiten und eindeutig zu fixieren gilt.
Stachowiak a.a.O., S. 130.
Satzmodell
Nach einigen Vorarbeiten hat Carl Dahlhaus in seiner 1968 veröffentlichten Habilitationsschrift (Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel 1968) Satztypen und -formeln des 15. und 16. Jahrhunderts als Satzmodelle bezeichnet. Satzmodelle bieten die Möglichkeit, die aus pädagogischen Gründen getrennten Bereiche Harmonielehre und Kontrapunkt wieder zusammenzuführen:
Aber die Akkordschemata der Harmonielehre sind nicht die Harmonik der musikalischen Wirklichkeit, die vielmehr niemals getrennt von der Stimmführung verstanden werden kann.
Carl Dahlhaus, »Versuch über Bachs Harmonik», in: *Bach-Jahrbuch 43 (1959), S. 73−92.
Carl Dahlhaus sah in Satzmodellen einen Gegenentwurf zu den großen musiktheoretischen Systemen und ihren Methoden. Aus pädagogischer Sicht lassen sich Satzmodelle als Reformversuch interpretieren, eine zum Akkordvorrat geschrumpfte Harmonielehre und einen zur Rechenübung verkommenen Kontrapunkt wieder an komponierte oder improvisierte Musik heranzuführen.
Während im musiktheoretischen Diskurs keine Einigkeit im Hinblick auf eine Definition sowie den Wert des Begriffs für die Forschung herrscht, sind Satzmodelle aufgrund der Praktikabilität für die musikalische Analyse sowie das Schreiben und Improvisieren von Musik im Musiktheorie- und Gehörbildungsunterricht heute eine Selbstverständlichkeit.
Topos
Der Begriff Topos wird im Rahmen musikalischer Analysen gerne verwendet, obgleich der sich in den enzyklopädischen Standardwerken der Musikwissenschaft nicht findet. Jürgen Hunkemöller hat dazu angemerkt:
Bei der Frage, was denn ein Topos sei und welchen Nutzen die Erforschung von Topoi verspreche, begeben wir uns auf vermintes Gelände, d. h. wir bekommen es mit dem weiten Feld semantischer Fragestellungen zu tun.
Jürgen Hunkemöller. »Topoi in der Musik Béla Bartóks«, in: Studia Musicologica 54 (2013), S. 289 f.
Der Topos-Begriff, der seine Wurzeln in der antiken Rhetorik (inventio) hat und heute in der Literaturwissenschaft beheimatet ist, hat nach Hunkemöller seine Bedeutung für die neuere musikwissenschaftliche Forschung durch Reinhold Hammerstein erhalten. Er initiierte ein DFG-gefördertes Projekt zur Topos-Forschung am Musikwissenschaftlichen Institut in Heidelberg und sah Topoi als Mittel zur Einheit und Kontinuität in der Musikgeschichte. 1974 wurde dazu in einem Kongressbeitrag ausgeführt:
Unter Topoi in der Musik sind vorgeprägte Gestalten, Formeln mit sprachähnlichem Bezeichnungscharakter zu verstehen oder [...] schematisierte [...] Denk-, Vorstellungs- und Ausdrucksformen der musikalischen Produktion. Ihre Kontinuität und ihre jeweiligen Wandlungen zu beschreiben, ihr Auftauchen und ihr Versinken innerhalb der Musikgeschichte zu verfolgen, ist somit Aufgabe einer musikalischen Toposforschung [...] Solche Topoi grenzen sich von musikalischen Figuren und Symbolen dadurch ab, dass sie keine kompositorischen Einzelheiten wie etwa die Deutung einzelner Wörter oder Wortverbindungen erfassen, sondern eine in der Musik zu verwirklichende feste Thematik darstellen. Diese Thematik, oftmals aus einem Vorrat archetypischer Vorstellungen, etwa Liebe, Krieg, Jagd oder Tod, kann musikalisch als Einzelelement auftreten: als Rhythmus, als melodische Wendung, als tonartliche oder instrumentengebundene Erscheinung. Sie signalisiert jedoch stets das Ganze einer so gearteten Vorstellung.
Hermann Jung, »Die Pastorale. Vom literarischen zum musikalischen Topos«, in: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress Berlin 1974, Kassel 1980, S. 477-478.
Hunkemöller, der sich für den Topos-Begriff einsetzt, konkretisiert hierzu:
Wer über die strukturelle Logik einer Komposition hinaus und durch sie hindurch im klingenden Ereignis einen Sinn, eine Aussage, einen Ausdruck sucht, der findet in den Topoi Entschlüsselungshilfen [...] Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Bei der Sinnsuche geht es nicht um Hermeneutik, d. h. um eine musikalische Auslegungslehre, wie sie von Hermann Kretzschmar und Arnold Schering erdacht und von Constantin Floros, Siegfried Mauser u. a. weiterverfolgt worden ist.
Hunkemöller a.a.O., S. 292 f.
Für ihn sind Battaglia und Pastorale Topoi, die »für Universalien der Menschheitsgeschichte, für archetypische Erfahrungen« stehen bzw. »für Krieg und Frieden und alles, was mit Krieg und Frieden assoziierbar ist«.
Carl Dahlhaus hat in seiner Habiltationsschrift satztechnische Sachverhalte wie z.B. die Kadenz als satztechnische Topoi bezeichnet:
Die ›vollständige Kadenz‹ I–IV–V–I erscheint im 16. Jahrhundert in unmittelbarer Nähe zu satztechnischen Formeln, die keine tonale Interpretation zulassen; und die Annahme, daß das musikalische Hören während eines Werkes oder Satzes zwischen tonaler und nicht-tonaler Auffassung wechselte, wäre problematisch [...] Die »vollständige Kadenz« war ein satztechnischer Topos, ohne als Prinzip eines Akkordsystems begriffen zu sein.
Carl Dahlhaus, Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel 1968, S. 100 f.
Unter Berufung auf Dahlhaus und Theodor W. Adorno hat sich in der akademischen Musiktheorie Hartmut Fladt für den Topos-Begriff eingesetzt. Er führt aus:
Gegenstand meiner Ausführungen sind Klangfortschreitungs-Modelle, deren substantielle Bedeutung für die Kompositionsgeschichte bisher entweder zu wenig erkannt oder zu sehr vernachlässigt wurde. Sie bezeichnen, quer durch die Musikgeschichte und in fast allen Gattungen und Stilen, eine unauflösbare Einheit von kontrapunktischen und harmonischen Prinzipien, denen immer auch zugleich geschichtlich gewachsene Semantik anhaftet – daher, bei aller Problematik, die Bevorzugung des Topos-Begriffs. Daß bestimmte Modelle in bestimmten Gattungen, an bestimmten formal-dramaturgischen Positionen oder in Kontexten genau definierbarer Semantik immer wieder – kaum modifiziert oder individualisiert – von den Komponierenden abgerufen werden, ist wesentlicher Bestandteil ihres Topos-Charakters und begründet auch grundlegende musikalische Verknüpfungsweisen. ›Modell‹ ist primär Struktur, ›Topos‹ die Einheit von Struktur und geschichtlich definierter Bedeutung / Funktion.
Hartmut Fladt, »Satztechnische Topoi«, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 2/2–3 (2005), S. 189.
Mit der Behauptung allerdings, dass Modell primär Struktur sei, Topos dagegen »die Einheit von Struktur und geschichtlich definierter Bedeutung«, schränkt Fladt den Modellbegriff Stachowiaks empfindlich ein und steht damit im Widerspruch zu einer Verwendung des Modell-Begriffs z.B. bei Ulrich Kaiser. Kaiser führt dazu aus:
Modelle werden zur Beantwortung von Forschungsfragen gebildet, daher kann die Anzahl möglicher Modelle nicht begrenzt sein. Oder in der Sprache der Systemtheorie nach Niklas Luhmann: Modellbildungen sind kontingent. Und ebenso wenig, wie sich Welterfahrung einschränken lässt, kann die Kontingenz einer Modellbildung eingeschränkt werden. Die Forderung einer generellen Limitierung von Modellen für das wissenschaftliche Arbeiten lehne ich vor diesem Hintergrund als willkürlich und dogmatisch ab.
Ulrich Kaiser, »Vom Satzmodell zum Modell«. in: ZGMTH 13/Sonderausgabe (2016), S. 148.
Nach dieser Auffassung sind der Ausschluss von Bedeutung und Funktionen aus Modell-Konstruktionen Setzungen, die unter Berufung auf den Kontingenz-Begriff Luhmanns als dogmatisch abgelehnt werden. Jenseits dieser Kritik hat Fladt ein Forschungsfeld eröffnet, das sich um wissenschaftlich tragfähige Antworten auf die Fragen bemühen muss, wann und wodurch die geschichtliche Bedeutung eines Topos definiert worden ist und für wen sie Gültigkeit beanspruchen darf.
Funktionale Analyse & Hermeneutik
Wolfgang Ludwig Schneider, derzeit Professor am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, hat dargelegt, dass Hermeneutik und Funktionale Analyse komplementäre Formen des Verstehens sind. In seinen Ausführungen zitiert er zuerst eine Kritik des amerikanischen Anthropologen Marshall Sahlins (*1930) an den funktionalen Analysen Malinowskis:
Als Malinowski zeigen wollte, daß »den Intichiuma-Zeremonien der australischen Ureinwohner mit ihren wilden Tänzen, ihren bemalten Körpern und ihren symbolverzierten Schilden in Wirklichkeit eine Funktion im ökonomischen Leben zukam«, daß nämlich durch die vorangestellten Riten die Produktion stimuliert würde (Malinowski 1912), was erfuhren wir da eigentlich über jene wilden Tänze, bemalten Körper und über all die tausend anderen Dinge, die zu einer Intichiuma-Zerernonie gehören? Eine solche begriffliche Verarmung kennzeichnet die theoretische Produktionsweise des Funktionalismus [...] Tatsächlich vereitelt diese Erklärung geradezu ihr Ziel, den Brauch verständlich zu machen, denn das ist doch wohl eine wunderliche Art, sein Geschäft anzugehen" (Sahlin 1981, S. 114 f.).
Sahlin 1981, S. 114 f. Zit. nach Schneider 2009, S. 77.
Wolfgang Ludwig Schneider gibt Marshall Sahlin in dem Punkt recht, dass der Funktionalismus Besonderheiten eines Phänomens nur mangelhaft zu berücksichtigen in der Lage sei. Allerdings teilt er Sahlins Kritik nicht, da dieser den Wert der funktionalen Betrachtungsweise verkennen würde. Denn unter Bezugnahme auf den Modell-Begriff Stachowiaks (s.o.) könnte man sagen, dass Schneider den abstrakten Vergleichsgesichtspunkt einer Funktionalen Analyse, würdigt, weil er es ermöglicht, sehr unterschiedliche Phänomene zu referenzieren. Malinowskis Interesse hingegen zielt auf eine sehr konkrete Modellierung der Wirklichkeit zum besseren Verständnis individueller Gegebenheiten, fokussiert also das, was seit Schleiermacher Ziel hermeneutischer Bemühungen ist.
Funktionale Analyse
Für eine systematische musiktheoretische Forschung ist die Funktionale Analyse von herausragender Bedeutung. Dieser Begriff bezeichnet eine Forschungsmethode, die keiner Theorie explizit verpflichtet ist, obgleich sie in aktuell praktizierten Formen auf konstruktivistischen Prämissen aufbaut und in der Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927−1998) eine tragende Rolle spielt. Die Funktionale Analyse geht auf den polnischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski (1884−1942) zurück, der sich darum bemühte, soziale Phänomene wie Handlungen, Riten, Einrichtungen etc. als Ausdruck menschlicher Kultur zu verstehen.
Nach Malinowski erfüllen die Phänomene menschlicher Kultur einen Zweck. Kulturelle Leistungen sind Lösungen für bestimmte Probleme. Als Probleme nahm Malinowski anthropologische Konstanten an (wie z.B. Hunger, Angst etc.) und konnte daraufhin unterschiedliche kulturelle Überformungen als Reaktionen auf diese Probleme interpretieren. Niklas Luhmann, deutscher Soziologe und Begründer einer konstruktivistischen Systemtheorie, hat das 1962 in seinem Aufsatz »Funktion und Kausalität« anhand des Kulturphänomens »emotional schwierige Lagen« veranschaulicht:
Wenn Malinowski feststellt, die Funktion des Ritus sei es, die Anpassung an emotional schwierige Lagen zu erleichtern, so ist damit implizit die Frage aufgeworfen, welche anderen Lösungsmöglichkeiten es für dieses Problem gibt. Der Ritus tritt dann in ein Verhältnis funktionaler Äquivalenz zu anderen Möglichkeiten, etwa ideologischen Erklärungssystemen oder privaten Reaktionen wie Jammer, Ärger, Humor, Nägelkauen oder Rückzug in imaginäre Fluchtwelten. Darin liegt das Interessante an Malinowskis Einsicht. Nicht auf eine gesetzmäßige oder mehr oder weniger wahrscheinliche Beziehung zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen kommt es an, sondern auf die Feststellung der funktionalen Äquivalenz mehrerer möglicher Ursachen unter dem Gesichtspunkt einer problematischen Wirkung.
Luhmann 2009 (1962), S. 17.
Selbstverständlich sind absolut gesehen ein religiöser Ritus sowie Nägelkauen vollkommen unterschiedliche Phänomene, zumal sich diese Ereignisse in großer zeitlicher und kultureller Distanz verorten lassen. Aber vor dem konstanten Vergleichsgesichtspunkt der Bewältigung »emotional schwieriger Lagen« würde sogar das rituelle Menschenopfer prähistorischer Kulturen mit dem Nägelkauen moderner Gesellschaften vergleichbar, wobei diese Vergleiche wiederum Rückschlüsse auf und ein Verständnis für die jeweiligen Kulturen erlauben.
Hermeneutik
Den Unterschied zwischen Funktionaler Analyse und Hermeneutik erläutert Wolfgang Ludwig Schneider anhand eines weiteren Aspekts, den er mit den Begriffen der latenten Funktion und manifesten Funktion beschreibt. Latente Funktionen sind solche, die sich einem unbeteiligten Beobachter erschließen können, nicht aber den Akteuren selbst. Denn was den Mitgliedern einer primitiven Gesellschaft bewusst ist, wenn sie ein Menschenopfer darbieten, ist eine Sache (z.B. Verehrung einer Gottheit), eine andere ist es, welchen Sinn ein außenstehender Beobachter diesem Menschenopfer zuschreiben kann (z.B. Gewaltprävention durch Fokussierung von Aggression auf ein Ersatzobjekt). Wolfgang Ludwig Schneider führt hierzu aus:
Die Aufdeckung latenter Funktionen [...], d.h. von Bezugsproblemen, die eine soziale Einrichtung aus der Perspektive des Beobachters löst, bildet den Schwerpunkt der funktionalanalytischen Methode. Manifeste Funktionen, d.h. diejenigen Probleme, die die Akteure erkennen und durch ihr Handeln zu lösen versuchen, sind demgegenüber von nachgeordneter Bedeutung. [...] Anders als die funktionalanalytische Methode stellte die auf Schleiermacher zurückgehende hermeneutische Tradition das Verstehen des subjektiven Sinns in den Vordergrund. Erst in der jüngeren Geschichte der Hermeneutik, für die wir Gadamer, Popper und Oevermann exemplarisch diskutiert haben, wird diese Einschränkung konsequent aufgelöst und damit die hermeneutische Interpretation auf das Terrain latenter Sinnstrukturen und Problembezüge ausgedehnt, das der funktionalen Analyse vorbehalten schien.
Schneider 2009, S. 94 f.
Am Beginn steht die Konstruktion eines Modells (oder eines Idealtypus), der es ermöglichen soll, Türme zu untersuchen. Das kann durch Attribute geschehen (schlank, senkrecht, hoch etc.), andererseits durch Funktionen (ermöglicht einen Blich in die Ferne, ist von weitem sichtbar usw.). Untersucht man mithilfe dieses Modells nun Türme in der Wirklichkeit, kann man zwei Blickrichtungen einnehmen: eine funktionalanalytische und eine hermeneutische.
- In der funktionalen Blickrichtung werden verschiedene Türme als funktional äquivalent betrachtet, zum Beispiel der Schiefe Turm von Pisa sowie der Eiffelturm in Paris. Denn hinsichtlich ihrer Leistungen sind dieser beiden Türme funktional äquivalent, denn beide Türme ermöglichen einen erhöhten Ausblick und sind von weitem sichtbar. Das Ziel einer funktionalen Verwendungsweise eines Modells zeigt sich also darin, dass es viele verschiedene Objekte gleichzeitig anzusprechen vermag, die in ihrer Funktion (»weiter Blick in die Ferne«) gegeneinander austauschbar bzw. funktional äquivalent sind.
- In der hermeneutischen Blickrichtung würde jeder Turm einzeln mit dem Modell verglichen, wobei in den Abweichungen die Individualität der Bauwerke hervortritt. Im Fall des Schiefen Turms von Pisa wäre beispielsweise die Schieflage messbar, im Falle des Eiffelturms in Paris die charakteristische Bauweise mit breitem Sockel und einer auffälligen Verschlankung zur Spitze. Das Ziel einer hermeneutische Verwendungsweise eines Modells liegt also darin, ein einzelnes Objekt mit dem Modell zu vergleichen und über die Abweichungen vom Modell etwas von der Individualität des Untersuchungsgegenstandes zu erfahren.